Mit der Muttergottes gegen Geschwätzigkeit

Es ist keines der klassischen Marienmotive, im Gegenteil. Aber ein Vorbild findet sich in der antiken Kathedrale von Faras im Sudan nahe der ägyptischen Grenze. Im Wüstensand, der heute vom Assuan-Staudamm bedeckt ist, legten in den 1960er-Jahren Archäologen ein Gotteshaus aus dem frühen 8. Jahrhundert frei, die Wände reich mit Fresken bedeckt. Zu den prominentesten Darstellungen - heute im polnischen Nationalmuseum in Warschau - zählt die heilige Anna, die Mutter Marias: Sie vollzieht eben diese Geste des Schweigens; vielleicht ein Hinweis auf das nicht in Worte zu fassende Geheimnis der Menschwerdung Gottes, das sich nach christlichem Glauben in ihrer Tochter ereignen sollte.
Das gleiche Motiv findet sich in der byzantinischen Tradition auch für den Evangelisten Johannes. Die Ostkirche gab ihm den Beinamen "der Theologe", weil er wie kein anderer der vier Evangelisten immer wieder von dem fleischgewordenen Wort Gottes schreibt. Auch hier deutet der Finger auf den Lippen auf die Grenzen des Sagbaren: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen", wie es der Philosoph Ludwig Wittgenstein formulierte.
Geschwätzigkeit galt schon früher als Laster
Aber warum platzierte Franziskus die "Vergine del silenzio" ausgerechnet gegenüber dem Eingang des Papstpalastes? Es dürfte um mehr gehen als um eine in religiöse Bildersprache gekleidete Aufforderung, auf laute Unterhaltungen oder Handytelefonate zu verzichten. Gewiss galt den Mönchsvätern der frühen Kirche wie auch schon antiken Philosophen die Geschwätzigkeit als Laster, weil sie von der Konzentration auf Wesentliches ablenkt und dazu tendiert, Unfrieden zu befördern.
Franziskus hatte in seiner Ansprache an die Kardinäle im Advent 2014 eigens vor der "Krankheit des Klatsches, des Geraunes und des Tratsches" gewarnt: Es sei eine "schwere Krankheit, die leicht beginnt" und den Betreffenden oft zu einem kaltblütigen Rufmörder seiner eigenen Kollegen und Mitbrüder mache. "Es ist die Krankheit von Feiglingen, die, weil sie nicht den Mut haben, direkt zu sprechen, hinter dem Rücken reden", sagte Franziskus. Und wo bietet sich eine Gelegenheit dafür besser als bei einem unbeobachteten Smalltalk im Aufzug?