"Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo über Glaube, Kirche und Medien

"Ich brauche die Kirche nicht zu jedem Thema"

Veröffentlicht am 22.02.2016 um 00:01 Uhr – Von Gudrun Lux – Lesedauer: 
Medien

München ‐ Die Stimme der Kirche sei leiser geworden, sagt "Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo im Interview . Trotz verschiedener innerkirchlicher Strömungen müsse sie sich aber in einer Zeit polarisierter Diskussionen äußern.

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Frage: Herr di Lorenzo, dürfen Journalisten eine Haltung haben - oder müssen Sie sogar? Oder sollten Journalisten neutrale Beobachter sein?

di Lorenzo: Es ist eine Utopie, anzunehmen, es gebe neutrale Journalisten. Das wäre auch nicht wünschenswert. Jeder Mensch braucht Kriterien, um bewerten zu können. Zeitungen können sich auch eine eigene Meinung leisten - in der Vergangenheit zum Beispiel für oder gegen die Ostpolitik Willy Brandts, heute für oder gegen die Flüchtlingspolitik Angela Merkels. Ich glaube, das Entscheidende ist, dass Journalisten überall hinschauen und keine Ereignisse ausblenden, nur weil sie nicht zu ihrem Weltbild passen.

Frage: Gibt es denn etwas, das einen katholischen Publizisten kennzeichnet? Eine besondere Haltung?

di Lorenzo: Guter Journalismus ist unabhängig von der eigenen religiösen Prägung. Wenn Sie mich fragen: "Kann man ein interessantes katholisches Magazin machen?" Ja, natürlich gibt es da genug Themen - Glaubensfragen, Kirchenpolitik, Spiritualität. Aber ich glaube nicht, dass Journalismus besser wird, wenn der Journalist seine katholische oder eine andere religiöse Haltung zeigt. Das stelle ich mir eher als eine Einschränkung vor. Natürlich spielt das Menschenbild, das jemand hat, etwa bei der Beschreibung von Missständen eine Rolle. Aber eine offensive Haltung: "Ich mache das Blatt so, weil ich katholisch bin" - die finde ich sehr angreifbar.

„Es ist ein Gewinn für die katholische Kirche, dass sie ein so charismatisches Oberhaupt hat wie Franziskus.“

—  Zitat: Giovanni di Lorenzo

Frage: Als dezidiert katholische Journalisten treten ja zurzeit eher Polemiker und Beseelte auf...

di Lorenzo: Auch der Katholizismus hat unterschiedliche Strömungen. Wichtig ist, dass wir den Laden trotzdem zusammenhalten. Besonders in einer Zeit, in der die politische Diskussion so polarisiert, das politische Klima so vergiftet ist, dass vieles auseinanderzudriften droht.

Frage: Gibt es überhaupt noch große katholische Intellektuelle, wo es doch kein katholisches Milieu mehr gibt?

di Lorenzo: Ich finde, die Deutschen waren als Lieferanten katholischer Intellektueller eigentlich immer ganz gut, auch aus der Kirchenhierarchie sind sie ja nicht verschwunden. Ich weiß auch gar nicht, ob es keine katholischen Milieus mehr gibt. Wenn ich da in die bayerischen Berge schaue... In Hamburg hingegen, wo ich lebe, hat es das Katholische in der Diaspora schwer, nicht mal an Heiligabend im Kindergottesdienst gab es einen Priester. Insgesamt muss ich Ihnen also widersprechen: Es gibt auch in Deutschland noch katholische Milieus und sicher auch katholische Intellektuelle.

Frage: Und tragen diese katholischen Intellektuellen im Moment noch etwas zum Diskurs bei?

di Lorenzo: Die Stimme der christlichen Kirchen ist leiser geworden. Auf der anderen Seite muss man sagen: Papst Franziskus kann sich über mangelnde Resonanz nicht beklagen. Kirchen brauchen nicht nur Intellektuelle, sondern auch Charismatiker. Insofern ist es mit Sicherheit ein Verlust für die evangelische Kirche, dass Frau Käßmann nicht mehr in Amt und Würden ist; und es ist ein Gewinn für die katholische Kirche, dass sie ein so charismatisches Oberhaupt hat wie Franziskus.

Bild: ©Andreas Gregor

"Zum Zeitgeschehen und zum Leben gehören eben auch der Glaube und sein Bruder der Zweifel dazu", so Giovanni di Lorenzo im Interview mit katholisch.de.

Frage: Wünschen Sie sich denn im öffentlichen Diskurs mehr Einmischung der Kirche?

di Lorenzo: Ich brauche die Kirche nicht zu jedem Thema, aber als zum Beispiel die große Hetzjagd gegen Christian Wulff stattgefunden hat, da hätte ich mir unabhängig von den Vorwürfen ein offen formuliertes Mitgefühl gewünscht, nicht erst in der Rückschau. Auch seriöse Medien haben gegen Wulff und andere die absurdesten Details ausgegraben. Wenn wir Menschen derart auf den Prüfstand stellen, ist dem keiner mehr gewachsen. Das ist die Neuauflage des mittelalterlichen Prangers. Wir machen es uns da bei der Unterteilung der Welt in Gut und Böse oft zu einfach. Viele Vorwürfe stellen sich im Nachhinein als unberechtigt aus, der Ruf eines Menschen ist dann aber für immer beschädigt.

Frage: Sie haben bei der "Zeit" vor fast sechs Jahren die Seite "Glauben und Zweifeln" eingeführt - warum eigentlich?

di Lorenzo: "Die Zeit" ist eines der Blätter, die noch an "general interest" glauben. Wir machen kein Blatt, das sich nur auf eine Sache konzentriert. Wer sich nur auf einem Fachgebiet informieren will, was ihn interessiert, der wird im Internet sehr gut bedient. Das hat aber auch eine gewisse Verengung zur Folge. Zum Zeitgeschehen und zum Leben gehören eben auch der Glaube und sein Bruder der Zweifel dazu. Diesen Teil der Wirklichkeit wollen wir in der "Zeit" abbilden. Inzwischen ist die Seite "Glauben und Zweifeln" ein gut eingeführtes und einzigartiges Format. Es gibt - zu meiner eigenen Überraschung - nichts Vergleichbares.

Frage: Und wie geht es mit "Christ & Welt" - das Nachfolgeblatt des "Rheinischen Merkur" fand ja 2010 bei der "Zeit" ein neues Dach - ohne die bisherige Redaktionsleiterin Christiane Florin weiter, die das Blatt zum Jahresende 2015 verlassen hat?

di Lorenzo: Es wird natürlich weitergehen. Christiane Florin hat die Gründerjahre von "Christ & Welt" maßgeblich geprägt. Aber unser Herausgeber von "Zeit"-Seite, Patrik Schwarz, ist ja nach wie vor an Bord und entwickelt "Christ & Welt" jetzt mit Raoul Löbbert und seinen Kollegen weiter.

„Ein Journalismus, der bestimmte Themen nicht stattfinden lässt, aus Angst, das könnte die Falschen munitionieren, macht sich angreifbar.“

—  Zitat: Giovanni di Lorenzo

Frage: "Christ & Welt" hat also unter dem Dach der "Zeit" eine Zukunft auch über die bis jetzt vereinbarte Kooperation bis 2017 hinaus?

di Lorenzo: Ich werde alles dafür tun, dass es so ist. Das hängt nicht nur an mir, aber dass ich an diesem Projekt hänge, hat sich - glaube ich - herumgesprochen. Es gibt auf dem Markt nichts mit "Christ & Welt" Vergleichbares, insofern lauten die Alternativen: "Christ & Welt" oder gar nichts. Das sage ich auch an die Adresse jener, die sich manchmal über "Christ & Welt" ärgern. Aber ein unabhängiges, diskursfreudiges, engagiertes, intelligentes christliches Blatt muss manchmal auch Ärger hervorrufen.

Frage: Ist das generell eine Aufgabe von Publizistik?

di Lorenzo: Nicht als Selbstzweck, aber es ist das Kennzeichen freier Medien. Ein Blatt, das niemanden aufregt, ist auch kein spannendes Blatt.

Frage: Manche Menschen ärgern sich allerdings übermäßig. Sie glauben nichts mehr und werfen den Medien vor, "Lügenpresse" zu sein...

di Lorenzo: Es ist ein relativ kleiner, aber sehr meinungsstarker Teil der Bevölkerung, der "Lügenpresse" ruft. Es ist unsere Aufgabe, durch gute und transparente Arbeit diejenigen, die anfangen zu zweifeln, wieder darin zu bestärken, dass wir in Deutschland ganz hervorragende Medien haben und das in einer großen Vielzahl. Dazu gehört aber auch, dass wir Themen nicht ausblenden, womit wir wieder beim Anfang wären: Ein Journalismus, der bestimmte Themen nicht stattfinden lässt, aus Angst, das könnte die Falschen munitionieren, macht sich angreifbar. Insofern glaube ich, dass die Ereignisse von Köln nicht nur für unser Land ein Wendepunkt waren, sondern auch für den Journalismus. Es ist unbegreiflich, dass ein Ereignis, das in der Nacht von Donnerstag auf Freitag stattfindet, erst am Montag in den Medien Niederschlag findet. Das darf uns nicht noch einmal passieren. Allerdings haben wir selbstkorrigierende Systeme: In den Tagen nach der Pressekonferenz der Polizei wurde hervorragend berichtet, auch von denen, die sich zuerst schwer getan haben.

Zur Person

Giovanni di Lorenzo (*1959) ist seit 2004 Chefredakteur der Wochenzeitung "Die Zeit". Darüber hinaus ist er Mitherausgeber des Berliner "Tagesspiegels" und Moderator der Talkshow "3 nach 9" bei Radio Bremen.
Von Gudrun Lux