"Markante Ungerechtigkeit"
Frage: Herr Professor Schockenhoff, viele Studien zeigen: Kinder sind heute in Deutschland Armutsrisiko Nummer 1. Gleichzeitig geraten aktuelle familienpolitische Leistungen auf den Prüfstand. Was liegt bei der grundgesetzlich verankerten Familienförderung im Argen?
Schockenhoff: Für mich besteht das größte Problem darin, dass heute Ehepaare mit Kindern ihre großen finanziellen Lasten nur zu einem geringen Teil ersetzt bekommen, obwohl sie einen entscheidenden Beitrag für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft leisten. Darüber hinaus erwerben kinderlose Erwachsene in Ehe oder anderen Partnerschaftsformen in der Regel einen doppelten Rentenanspruch, den dann die Kinder derjenigen später finanziell erwirtschaften müssen, die heute für das Leben mit eigenen Kindern erhebliche finanzielle Belastungen auf sich nehmen. Hier haben wir ein enormes Gerechtigkeitsproblem, auch wenn es für die Bereitschaft, Kinder zu erziehen, keinen adäquaten materiellen Ausgleich geben kann. Und das betrifft eine große Zahl von Menschen in unserem Land. 75 Prozent aller Kinder leben bei ihren eigenen Eltern, bei Vater und Mutter, die miteinander verheiratet sind.
Frage: Warum muss der Staat Familie und Ehe besonders schützen?
Schockenhoff: Ehe und Familie genießen den besonderen Schutz des Staates, weil sie - das war zumindest die Basis bis vor wenigen Jahren - die Grundlage für Kinder und damit für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft sind. Deshalb wurde auch das heute vieldiskutierte Ehegattensplitting geschaffen als eine steuerliche Entlastung von Ehen, die sich dann in aller Regel durch Kinder zur Familie erweitern.
Frage: Zu heiraten bedeutet aber heute keineswegs zwangsläufig, Kinder zu wollen...
Schockenhoff: Ja, und das ist die eigentliche Gerechtigkeitslücke: Es gibt immer mehr Paare, die verheiratet sind, sich aber bewusst gegen Kinder entscheiden und dennoch gleichermaßen Nutznießer steuerlicher Vergünstigungen werden. Das ist vom ursprünglichen Sinn des Ehegattensplittings her gedacht eine klare Fehlentwicklung.
Frage: Also wäre es auch ungerecht, wenn nun das Ehegattensplitting auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften erweitert würde?
Schockenhoff: Es ist nachvollziehbar, dass nun auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften unter dem Ziel der Gleichstellung mit Ehen Nutznießer dieses Steuerprivilegs werden wollen. Der Staat kann dem nachkommen, wenn er sich bewusst dafür entscheidet, nicht nur Ehen fördern zu wollen, sondern auch weitergefasst alle "Verantwortungsgemeinschaften". Aber wenn sich der Staat dies leisten will, dann müsste diese Neuregelung so ausgestaltet werden, dass wirklich alle Verantwortungsgemeinschaften erfasst werden, nicht nur die im Verhältnis nur wenigen gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Es gibt viel mehr Verwandte, Geschwister, Großeltern und Kinder, die de facto miteinander leben und auch in Krankheit und Not füreinander einstehen und damit alle Merkmale einer Verantwortungsgemeinschaft erfüllen.
Frage: Beim Bundesverfassungsgericht stehen in den kommenden Monaten wichtige Entscheidungen rund um gleichgeschlechtliche Partnerschaften an. Was bliebe vom verfassungsrechtlich verankerten besonderen Schutz der Ehe überhaupt noch übrig, wenn Karlsruhe nach der Sukzessivadoption demnächst auch das Ehegattensplitting und das allgemeine Adoptionsrecht auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften ausweiten würde?
Schockenhoff: Das ist die Frage, die sich das Bundesverfassungsgericht wird stellen müssen. Die Verfassungsrichter unterscheiden bislang sehr wohl zwischen gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und der Ehe, für die die Verschiedenheit von Mann und Frau die Voraussetzung ist. Den vom Grundgesetz geforderten besonderen Schutz müssen die Richter genau ausformulieren.
Frage: Ist es 64 Jahre nach Annahme des Grundgesetzes an der Zeit, den Familienbegriff aus Artikel 6 zu erweitern, um gesellschaftlich veränderte Realitäten abzubilden?
Schockenhoff: Dass sich die gesellschaftlichen Realitäten gewandelt haben, ist eine beliebte Generalformel. Es entsteht dann rasch ein Bild, das eine völlige Verzeichnung der tatsächlichen Lage ist. So als seien Ehe und Familie gesellschaftliche Auslaufmodelle ohne Zukunft - und die eigentliche Zukunft unserer Gesellschaft wären allein die alternativen Formen wie Patchworkfamilien oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Das geht an der Wirklichkeit vorbei. Denn es sind eben drei Viertel aller Menschen, die in einem relativ klassischen Familienmodell, verheiratet, als Mann und Frau und mit eigenen Kindern zusammenleben. Die eigentliche gesellschaftspolitische Aufgabe ist es, diesen Menschen in diesem Lebensmodell eine angemessene finanzielle Entlastung für die Leistungen zu geben, die sie für die Zukunft der Gesellschaft erbringen.
„Es gibt eine strukturelle Rücksichtslosigkeit gegen den klassischen Familiensektor.“
Frage: Zugleich stellt sich aber doch die Aufgabe, auch anderen Lebensformen gerecht zu werden?
Schockenhoff: Selbstverständlich. Das muss diskutiert werden, aber sicher nicht als zentrales Zukunftsproblem unserer Gesellschaft. Wenn beispielsweise in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mit adoptierten Kindern faktisch ähnliche Erziehungsleistungen wie in der klassischen Familie erbracht werden, dann sollten sie auch steuerlich gleich behandelt werden.
Frage: Haben Familien heute größere Existenzsorgen und Probleme als vor 20 Jahren?
Schockenhoff: Sie haben es schwerer im Vergleich zum allgemeinen Lebensstil; absolut gesehen hatten sie es vor 20 Jahren schwerer. Die empirische Familiensoziologie zeigt aber deutlich, dass unsere Gesellschaft zunehmend in zwei Sektoren zerfällt: in den familiaren und in einen nicht-familiaren Lebenssektor. Gleichzeitig gibt es eine strukturelle Rücksichtslosigkeit gesellschaftlicher Trends gegen den klassischen Familiensektor.
Frage: Wo sehen Sie diese "strukturelle Rücksichtslosigkeit"?
Schockenhoff: Die bereits angesprochene Rentenformel ist die markanteste soziale Ungerechtigkeit unseres Gesellschaftsvertrages. Es gibt viele weitere Beispiele: Etwa dass heute viele Bildungsangebote teuer bezahlt werden müssen. Das führt Familien oft an die Grenzen. Das größte Armutsrisiko in Deutschland trägt nicht, wer in einer alternativen Lebenspartnerschaft lebt, sondern wer Kinder hat. Diese Ungerechtigkeit behindert die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft.
Das Interview führte Volker Hasenauer (KNA)