Christus ist gegenwärtig in Wort und Sakrament: Der Wortgottesdienst
Den ersten großen Teil der Eucharistiefeier bildet die Liturgie des Wortes. Der Wortgottesdienst mit seinen Lesungen weist darauf hin, dass die christliche Gemeinde immer eine hörende Versammlung ist. Nicht nur das selbst ausgesprochene Wort ist bedeutsam – ebenso wichtig ist es, Gottes Wort immer neu zu hören und ins eigene Leben aufzunehmen. Gott spricht zu seinem Volk. Und die Menschen sind eingeladen, sich von seinem Wort ansprechen zu lassen, es zu verinnerlichen und aus dem Gotteswort ihr Leben zu gestalten. Besonders im alttestamentlichen Buch Deuteronomium wird das Volk Israel auf das Hören der göttlichen Gesetze und Belehrungen eingeschworen. Der Glaube an den lebensspenden Gott kommt vom Hören und er wächst dort, wo man sich immer neu vom Gotteswort ansprechen und ergreifen lässt.
Die Schriftlesungen gliedern sich ein in die Feier des Geheimnisses von Leiden, Tod und Auferstehung Christi, denn sie sind selbst nichts anderes als Vergegenwärtigung der gesamten Heilsgeschichte. "Durch das Wort Gottes wird das Heilswerk unaufhörlich gegenwärtiggesetzt und fortgeführt und findet im gottesdienstlichen Tun sogar erst seinen vollen Ausdruck. So wird der Gottesdienst zur dauernden, vollen und wirksamen Verkündigung des Wortes Gottes" (Pastorale Einführung in das Messlektionar, Nr. 4). In der gottesdienstlichen Feier der momentan versammelten Gemeinde vollzieht sich das Heilswerk Gottes, das er vor Urzeiten mit den Menschen begonnen hat.
Ambo als "Altar des Wortes"
Nachdrücklich weist auch das Zweite Vatikanische Konzil auf die Bedeutung des Wortgottesdienstes für die Feier der Eucharistie hin. Die Konzilsväter betonen, dass Christus in seinem Wort ebenso gegenwärtig ist wie in der sakramentalen Gestalt (vgl. Sacrosanctum Concilium 7). Dementsprechend hat man fortan vom Ambo als dem "Altar des Wortes" gesprochen. Das Bild ist ansprechend und durchaus passend, denn in der Konstitution über die göttliche Offenbarung "Dei Verbum" weisen die Konzilsväter darauf hin, dass die Kirche die Heiligen Schriften ebenso verehrt hat, wie den Herrenleib selbst (vgl. Dei Verbum 21). Die Hochschätzung der Liturgie des Wortes, wie sie vor allem im Zweiten Vaticanum ihren Ausdruck findet, zeigt: Wortgottesdienst und Eucharistiefeier stehen auf Augenhöhe. Die eucharistische Liturgie darf nicht gegen die Liturgie des Wortes ausgespielt werden. Beides zusammen sind die Brennpunkte einer Ellipse, zwischen die die Eucharistiefeier der christlichen Gemeinde aufgespannt ist.
Auf wunderbare Weise verdeutlich eine biblische Geschichte dieses Miteinander von Wortgottesdienst und eucharistischer Liturgie: es ist die Erzählung von den Emmaus-Jüngern. Im 24. Kapitel seines Evangeliums berichtet Lukas von der Erscheinung des auferstandenen Jesus auf dem Weg nach Emmaus. Die beiden Jünger treffen unterwegs den Fremden, der ihnen im Blick auf die biblischen Schriften das aktuelle Ereignis der Kreuzigung Jesu aufschließt. "Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht." (Lk 24,27) Als die Jünger in Emmaus ankommen, bricht ihnen der Fremde das Brot – er feiert Eucharistie mit ihnen. Im "Brechen des Wortes" und im "Brechen des Brotes" erkennen die beiden den auferstandenen Herrn in ihrer Mitte. Schriftverkündigung und Mahl gehören in dieser Geschichte zusammen; erst in beidem offenbart sich der fremde Mann als der Auferstandene.
Wie bedeutend das Hören auf die Heilige Schrift für die Kirche ist, zeigt sich darin, dass die Liturgie der versammelten Gemeinde ganze vier Schriftlesungen zumutet. Neben der Lesung aus dem Alten und Neuen Testament gehören der Antwortpsalm und das Evangelium ebenso zum Wortgottesdienst dazu. In ihrer Vollform sollte die Liturgie des Wortes an den Sonn- und Feiertagen begangen werden. Die Gläubigen haben kraft ihrer Taufe ein Recht, alle Lesungen im Gottesdienst hören zu dürfen. Kurzfassungen oder das ganze Streichen von Schrifttexten sind in diesem Fall nicht angebracht. Ein bedeutender Teil der Liturgie wird den Gottesdienstteilnehmern dadurch vorenthalten.
Die biblischen Lesungen: Eigene Texte mit eigenem Wert
An Sonn- und Feiertagen ist die erste Lesung dem Alten Testament entnommen, die zweite entstammt einer der Schriften des Neuen Testaments. Eine Ausnahme bildet die Osterzeit; in ihr ist die erste Lesung stets aus der Apostelgeschichte, die zweite Lesungen ebenfalls neutestamentlich. Der angemessene Ort für die Verkündigung des Gotteswortes ist der Ambo. Er gleicht einem Vorlesepult und ist der Bereich in der Kirche, an dem sich der Wortgottesdienst vollzieht. Ähnlich dem Altar ist der Ambo daher ein heiliger Ort. Um die Würde dieses Ortes auch augenscheinlich zu wahren, sollte der Ambo nicht für jegliche Art von Verkündigungen, Vermeldungen und ähnlichen Grußworten verwendet werden.
Der Vortrag der Lesungen ist in vielen Gemeinden Aufgabe eines Lektors oder einer Lektorin. Dies ist ein Dienst, den Mitglieder des Gottesvolkes ehrenamtlich ausüben. Damit die Lektoren Schrifttexte auch überzeugend verkünden können, ist es wichtig, dass sie selbst mit den Texten vertraut sind. Der schönste Vortrag der Lesung nützt nichts, wenn der Vortragende nicht weiß, was er gerade liest. Die Wortverkündigung kann nur dann die versammelte Gemeinde erreichen, wenn man selbst mit den Texten vertraut ist und um ihre Inhalte weiß. Mehr noch: Wenn man sich selbst hat ansprechen lassen von Gott, der in den biblischen Schriften zu uns spricht.
Für die Auswahl der Lesungen im Gottesdienst gibt es eine Leseordnung, die überall auf der Welt gleich ist. An Wochentagen hat man nach der Liturgiereform das Prinzip der Bahnlesung eingeführt: Das bedeutet, ein bestimmtes biblisches Buch wird abschnittsweise jeden Tag im Gottesdienst gelesen. Wer täglich die Eucharistiefeier mitfeiert, hört so im Laufe einiger Tage oder Wochen ein ganzes Buch am Stück. Teilweise hat man dieses Prinzip auch für die Sonntage übernommen: Die zweite Lesung wird (zumindest in der Zeit im Jahreskreis) für eine längere Zeit aus dem gleichen Buch ausgewählt. Zum Evangelium nimmt man – je nach Lesejahr – einen Abschnitt aus einem der synoptischen Evangelien (Markus, Lukas, Matthäus), das Johannesevangelium wird besonders in der Osterzeit gelesen.
Die erste Lesung am Sonntag ist eine Perikope aus dem Alten Testament, die thematisch zum Evangelium passt. Bei der Auswahl der Bibeltexte ist man hier nach dem Schema "Verheißung – Erfüllung" vorgegangen: Was im Alten Bund noch für die Zukunft verheißen war, hat im Leben und Handeln Jesu Christi seine Erfüllung gefunden. Die biblischen Geschichten derartig auszulegen, widerspricht jedoch dem Verständnis des Alten Testaments. Der Münsteraner Exeget Erich Zenger hat im Bezug auf die alttestamentlichen Texte den Gedanken "Eigentext mit Eigenwert" geprägt. Das Alte Testament darf nicht nur mit der christologischen Brille gelesen werden, es lässt sich nicht nur vom Standpunkt des Neuen Testaments aus verstehen. Es besitzt eine eigene Aussageabsicht und Intention. Gerade im interreligiösen Dialog mit dem Judentum ist dies ein wichtiger Punkt.
Hinweis: Die weiteren Elemente des Wortgottesdiensts werden im dritten Teil der Serie behandelt.