Dogmatikprofessor: Benedikt-Text offenbart "System des Schweigens"
Für den Münsteraner Dogmatikprofessor Michael Seewald lässt sich anhand des kürzlich veröffentlichen Texts von Benedikt XVI. zum Missbrauch exemplarisch ablesen, wie ein "System des Schweigens" in der Kirche entstehen konnte. Dieses System zeige der Papa Emeritus in seinem Text gerade durch das, was er nicht erwähne, so Seewald in einem Gastbeitrag der "Frankfurter Rundschau". Die Verantwortung der Kirche für das, was Menschen durch Geistliche angetan wurde, blende die Schrift Benedikts vollkommen aus.
"Zwangsmaßnahmen" und "kirchenamtliche Sprechverbote"
Noch heute herrsche in der Kirche keine Meinungsfreiheit, analysiert Seewald: "Die freie Benennung von Missständen in der Kirche ist nur dort möglich, wo die Hierarchie es erlaubt." Die kirchliche Hierarchie sei geschickt darin, mit "Zwangsmaßnahmen" und "kirchenamtlichen Sprechverboten" Dinge unter der Decke zu halten, die nicht öffentlich werden sollten. Deswegen sei die Aufklärung des Missbrauchs auch nicht der Kirche selbst, sondern dem Mut einzelner Opfer und der Berichterstattung der Medien zu verdanken. Sinke der "mediale Druck" wieder, bestehe die Gefahr, dass die Kirche in alte Muster des Schweigens zurückzukehre. "Man kann nur hoffen, dass die Öffentlichkeit nicht müde wird, einer Institution auf die Finger zu schauen, die dringend der Kontrolle bedarf", schreibt Seewald.
Auch der kirchliche Umgang mit Macht sei ein Problem. Dieser Begriff werde in der kirchlichen Hierarchie zwar oft abgelehnt: Es gebe keine Macht, sondern nur einen Dienst, heiße es dann. Dieser Satz sei jedoch nichts weiter als eine Floskel, analysiert Seewald. Tatsächlich sei die Kirche durch ein Machtgefälle geprägt, das "dogmatisch auf Gott zurückgeführt" werde und diejenigen begünstige, die Gott zu einer bestimmten Aufgabe berufe.
Die Erinnerungen, mit denen Benedikt XVI. in seinem Text die 1968er Revolution beschreibt, empfindet Seewald "skurril". Die Worte des 92-Jährigen offenbarten ein "beachtliches Maß an Gehässigkeit". Der emeritierte Papst scheine zu denken, "dass es ohne ihn doch nicht geht" – und das trotz seines Versprechens sich im Ruhestand nicht mehr einzumischen.
Benedikt XVI. sieht 1968er in der Verantwortung
In der vergangenen Woche hatte Benedikt XVI. in einem in verschiedenen Medien veröffentlichten Text seine Sicht auf den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche dargelegt. Er sieht darin vor allem die sexuelle Revolution der 1968er Jahre und einen Verfall der Moraltheologie für den Missbrauch in der Kirche verantwortlich. (gho)