Michael Seewald kritisiert Analyse des emeritierten Papstes

Dogmatikprofessor: Benedikt-Text offenbart "System des Schweigens"

Veröffentlicht am 17.04.2019 um 13:44 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die kirchliche Hierarchie sei geschickt darin, mit "Zwangsmaßnahmen" und "kirchenamtlichen Sprechverboten" Dinge unter der Decke zu halten: Exemplarisch zeige das auch Benedikts Analyse zur Kirchenkrise, schreibt Dogmatiker Michael Seewald.

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Für den Münsteraner Dogmatikprofessor Michael Seewald lässt sich anhand des kürzlich veröffentlichen Texts von Benedikt XVI. zum Missbrauch exemplarisch ablesen, wie ein "System des Schweigens" in der Kirche entstehen konnte. Dieses System zeige der Papa Emeritus in seinem Text gerade durch das, was er nicht erwähne, so Seewald in einem Gastbeitrag der "Frankfurter Rundschau". Die Verantwortung der Kirche für das, was Menschen durch Geistliche angetan wurde, blende die Schrift Benedikts vollkommen aus.

"Zwangsmaßnahmen" und "kirchenamtliche Sprechverbote"

Noch heute herrsche in der Kirche keine Meinungsfreiheit, analysiert Seewald: "Die freie Benennung von Missständen in der Kirche ist nur dort möglich, wo die Hierarchie es erlaubt." Die kirchliche Hierarchie sei geschickt darin, mit "Zwangsmaßnahmen" und "kirchenamtlichen Sprechverboten" Dinge unter der Decke zu halten, die nicht öffentlich werden sollten. Deswegen sei die Aufklärung des Missbrauchs auch nicht der Kirche selbst, sondern dem Mut einzelner Opfer und der Berichterstattung der Medien zu verdanken. Sinke der "mediale Druck" wieder, bestehe die Gefahr, dass die Kirche in alte Muster des Schweigens zurückzukehre. "Man kann nur hoffen, dass die Öffentlichkeit nicht müde wird, einer Institution auf die Finger zu schauen, die dringend der Kontrolle bedarf", schreibt Seewald.

Bild: ©privat

Michael Seewald ist seit 2017 Inhaber des Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Münster.

Auch der kirchliche Umgang mit Macht sei ein Problem. Dieser Begriff werde in der kirchlichen Hierarchie zwar oft abgelehnt: Es gebe keine Macht, sondern nur einen Dienst, heiße es dann. Dieser Satz sei jedoch nichts weiter als eine Floskel, analysiert Seewald. Tatsächlich sei die Kirche durch ein Machtgefälle geprägt, das "dogmatisch auf Gott zurückgeführt" werde und diejenigen begünstige, die Gott zu einer bestimmten Aufgabe berufe.  

Die Erinnerungen, mit denen Benedikt XVI. in seinem Text die 1968er Revolution beschreibt, empfindet Seewald "skurril". Die Worte des 92-Jährigen offenbarten ein "beachtliches Maß an Gehässigkeit". Der emeritierte Papst scheine zu denken, "dass es ohne ihn doch nicht geht" – und das trotz seines Versprechens sich im Ruhestand nicht mehr einzumischen.

Benedikt XVI. sieht 1968er in der Verantwortung

In der vergangenen Woche hatte Benedikt XVI. in einem in verschiedenen Medien veröffentlichten Text seine Sicht auf den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche dargelegt. Er sieht darin vor allem die sexuelle Revolution der 1968er Jahre und einen Verfall der Moraltheologie für den Missbrauch in der Kirche verantwortlich. (gho)

Linktipp: Benedikt XVI.: Klima der 68er mitverantwortlich für Missbrauchsskandal

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. bricht sein Schweigen und veröffentlicht erstmals einen Aufsatz zur aktuellen Kirchen- und Missbrauchskrise. Als zentrale Ursache nennt er die Entfremdung vom Glauben, die sich seit den 1960er Jahren auch in einer Abkehr von der katholischen Sexualmoral breitgemacht habe.