"Ein wenig mehr Humanität und Vernunft"
Das Thema Kirchenasyl bewegt derzeit die Gemüter. Im Mittelpunkt stehen die sogenannten Dublin-Fälle, also jene Flüchtlinge, die über ein anderes EU-Land nach Deutschland eingereist sind. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) nimmt Dietlind Jochims Stellung zur aktuellen Situation. Die Pastorin ist Flüchtlingsbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland und Vorsitzende der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche.
Frage: Frau Jochims, hintertreiben die Kirchen die europäische Flüchtlingspolitik?
Jochims: Das kann ich nicht erkennen.
Frage: Die Dublin-Verordnung besagt, dass jeder Flüchtling nur in dem EU-Land einen Asylantrag stellen kann, das er als erstes betreten hat. Das Bundesinnenministerium wirft den Kirchen vor, bei solchen "Dublin-Fällen" eine Rücküberstellung in "systemisch unbedenkliche" EU-Mitgliedstaaten auf exzessive Art und Weise zu verhindern.
Jochims: Jedes Kirchenasyl steht als Einzelfall für sich. Und angesichts von 65.000 Dublin-Fällen sind die Kirchenasyl-Zahlen keinesfalls exzessiv. Aber ich sehe das als Indikator dafür, dass sich an den europäischen Verabredungen etwas ändern muss. Es stellt sich schon die Frage, warum beispielsweise in einem EU-Land zwei Prozent der Afghanen als Flüchtlinge anerkannt werden und in einem anderen Land 80 Prozent. Und es müssen deutliche Fragen an die sehr unterschiedlichen Bedingungen für Flüchtlinge in Europa gestellt werden.
Frage: Es bleibt aber dabei, dass Gemeinden ein Kirchenasyl in den vergangenen Monaten immer öfter gewährt haben und von aktuell rund 800 betroffenen Flüchtlingen über 90 Prozent Dublin-Fälle sind.
Jochims: Ich gehe davon, dass die Zahlen wieder sinken. Unter anderem als Folge der verschärften Bedingungen für das Kirchenasyl, die am 1. August in Kraft getreten sind.
Frage: Wieso?
Jochims: Jetzt müssen Gemeinden in vielen Fällen ein ganzes Jahr länger sämtliche Kosten für Unterbringung und Begleitung eines Flüchtlings übernehmen, bevor die Bundesrepublik für den Asylantrag die Zuständigkeit übernimmt. Und Flüchtlinge müssen überlegen, wie sie mit noch einem Jahr länger andauernder Ungewissheit über ihre Zukunft umgehen.
Frage: Gilt das für alle Dublin-Fälle?
Jochims: Für alle Dublin-Fälle, in denen die Gemeinden den Vorgaben des Erlasses nicht folgen.
Frage: Das heißt?
Jochims: Zum Beispiel, wenn bei Gewährung eines Kirchenasyls noch kein Ansprechpartner gegenüber den zuständigen Stellen beim Bamf, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, benannt wird. Oder wenn innerhalb von vier Wochen kein "aussagekräftiges" Dossier vorliegt.
Frage: Angeblich fehlt ein solches Dossier in etwa der Hälfte aller Fälle.
Jochims: Das stimmt - und wir als Kirchen tun gut daran, das Kirchenasyl gut zu begründen.
„Es geht niemand ans Telefon, E-Mails werden wochenlang nicht beantwortet.“
Frage: Ist das nicht sogar eine Pflicht?
Jochims: Eine sanktionsbewehrte Pflicht besteht erst seit dem 1. August. Von 2015 an gab es eine Entwicklung: von der Möglichkeit, ein Dossier einzureichen, hin zu einer expliziten Erwartung und impliziten Verpflichtung. Grundsätzlich habe ich gegen Dossiers überhaupt nichts einzuwenden.
Frage: Aber?
Jochims: Die Kriterien vom Bamf sind in den vergangenen drei Jahren einseitig verschärft worden, so dass eine Anerkennung von Härtefällen de facto immer schwieriger wird.
Frage: Woran machen Sie das fest?
Jochims: Die Anforderungen an ärztliche Gutachten liegen inzwischen so hoch wie bei Verwaltungsgerichtsverfahren. Das ist kaum mehr zu leisten - allein die Wartezeit für Termine bei Fachärzten übersteigt mitunter die für das Einreichen der Unterlagen eingeräumte Frist. Umgekehrt gibt es vom Bamf häufig pauschale Antworten auf die Dossiers. Seit Mitte 2016 hat sich zudem die Erreichbarkeit massiv verschlechtert. Es geht niemand ans Telefon, E-Mails werden wochenlang nicht beantwortet.
Frage: Unterm Strich...
Jochims: ... ist die Anerkennungsquote, die früher einmal bei 80 Prozent lag, seit Mitte 2016 auf aktuell 20 Prozent zurückgegangen.
Frage: Das Bundesinnenministerium weist diese Lesart zurück - eine entsprechende Statistik setze erst Mitte 2016 ein. Vergleiche zu der Zeit davor ließen sich nicht anstellen, heißt es.
Jochims: Die Behörden haben bis Mitte 2016 keine Statistik geführt, das stimmt. Seit 2015 habe ich aber allein für die Nordkirche 450 Dossiers eingereicht, die Vorgänge entsprechend nachgehalten und mit den Ergebnissen aus anderen Landeskirchen abgeglichen. Da kommt man schon zu einer recht verlässlichen Schätzung.
Frage: Offenbar ist die gegenwärtige Situation aus Sicht der Kirchen unbefriedigend. Was wäre jetzt zu tun?
Jochims: Es ist kein Zustand, der uns irgendwie näher an gute Lösungen bringt. Die Probleme waren vorhersehbar, aber die politisch Verantwortlichen werden jetzt nicht einfach zurückrudern und den erst vor kurzem in Kraft getretenen Erlass überarbeiten. Wir werden weiter deutlich machen, warum es wichtig ist, auf die Besonderheiten jedes einzelnen Falls zu schauen. Manches werden freilich die Gerichte entscheiden müssen.
Frage: Nämlich was?
Jochims: Die Frage, ob es juristisch haltbar ist, die Überstellungsfrist für Menschen im Kirchenasyl von sechs auf 18 Monate zu verlängern. Das ist eigentlich nur für Menschen vorgesehen, die untergetaucht oder flüchtig sind. Auf das Kirchenasyl trifft dies nicht zu.
Frage: Worin könnten die politischen Gründe für diesen Kurs liegen?
Jochims: Mein Eindruck ist: Da wird Symbolpolitik auf dem Rücken von einigen wenigen Menschen gemacht, anstatt Lösungen für die wirklichen Probleme zu finden. Die Kirchen sind jedenfalls nicht verantwortlich für das, was in der Flüchtlingspolitik schief läuft. Im vergangenen Jahr haben wir 1.561 Fälle von Kirchenasyl gehabt. Damit könnte man deutlich gelassener umgehen. Ein wenig Mehr an Humanität und Vernunft wäre angesagt, um menschliche Lösungen für die Betroffenen zu finden.