Pius XI. - Der Papst zwischen den Weltkriegen
Es waren keine leichten Wege, die Achille Ratti zu bewältigen hatte. Die erstmalige Gipfelbesteigung der Dufourspitze mit ihren 4633 Metern im Monte-Rosa-Massiv durch den begeisterten Alpinisten steht symptomatisch für Leben und Wirken dieses Petrusnachfolgers. Mit seiner Wahl 1922 war Pius XI. der Papst der Zwischenkriegszeit. Er stellte mit den Lateranverträgen 1929 bedeutsame außenpolitische Weichen für das Papsttum mit seinem Kirchenstaat und entfaltete eine neue Ära der Konkordate in einer Zeit faschistischer, nationalsozialistischer und kommunistischer Machtentfaltung. Gleichzeitig verfolgte er einen integralistischen Kurs und belebte im Kontrast zu den weltlichen Mächten die Idee der "Königsherrschaft Christi". Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verstarb er am 10. Februar 1939.
Pius XI. hatte ein Talent für Sprachen
Ehrgeiz und Ausdauer bewies Achille Ratti schon in seiner Jugend. Am 31. Mai 1857 wurde er als fünftes Kind einer lombardischen Familie geboren. Während er sich als leidenschaftlicher Bergsteiger in den Alpen bewährte, war auch sein schulisches Talent entdeckt und wurde an weiterführenden Gymnasien gefördert. Schon während seiner Gymnasialzeit hörte er in Mailand Theologievorlesungen. Mit 22 Jahren im Lombardischen Kolleg aufgenommen, schloss er mit 25 in Rom sein Studium ab – mit Doktorgraden in kanonischem Recht, Theologie und Philosophie. Die Priesterweihe folgte 1879. 1882 führte ihn der Weg dann als Professor für Dogmatik zurück nach Mailand. Mit seiner Liebe zum Forschen wie mit seinem Sprachtalent empfahl er sich als Leiter der weltberühmten Ambrosianischen Bibliothek.
1912 wurde er von Pius X. zum Propräfekt und 1914 zum Leiter der Vatikanischen Bibliothek in Rom berufen. Als Papst behielt er später seine Leidenschaft für die Wissenschaft bei. In seinem Pontifikat wurde die Sammlung der Vatikanischen Bibliothek durch tausend Manuskripte erweitert. Er baute das Orientalische Institut aus und gründete 1925 das Institut für christliche Archäologie. Mit seinem Einfluss erlebte auch die Gregoriana in Rom neuen Aufschwung, besonders in den Bereichen der Kirchengeschichte und Missionswissenschaften. Seine Enzyklika "Deus scientiarum Dominus" von 1931 reformierte das Hochschulwesen. 1936 gründete er die Päpstliche Akademie der Wissenschaften.
Den wissenschaftlichen Elfenbeinturm hatte er bald jedoch schon wieder zu verlassen. Mit Ende des Ersten Weltkriegs ernannte ihn Papst Benedikt XV. 1918 zum Apostolischen Visitator für Polen. Das Land rang zu dieser Zeit zwischen den Rivalen Russland, Deutschland und Österreich – und angesichts der vielen Minderheiten um die eigene Identität. In dieser heiklen Lage erlangte Achille Ratti mit dem Rang des Nuntius und Titularbischofs von Lepante 1919 hohes Ansehen. Für die effiziente Kirchenleitung nutzte er später als Papst die Ausweitung der Kompetenzbereiche der Nuntiaturen. Mit ihnen festigte er die römische Zentralgewalt. Von seinem Wohnsitz in Warschau aus organisierte er die polnische Kirche neu. Er errichtete fünf Bistümern und berief eine erste Bischofskonferenz ein. Seine Berufung 1921 zum Erzbischof von Mailand war nicht nur konsequent, sondern Ausdruck der Hochachtung vor den schwierigen Aufgaben in Polen.
Erneut war sein Verbleib in Mailand nur von kurzer Dauer. Als Kandidat der Mitte stellte sich Achille Ratti am 6. Februar 1922 infolge der 42 von 53 im Konklave auf ihn gefallenen Stimmen als Papst Pius XI. der Weltöffentlichkeit vor. Mit seinem Wahlspruch "Pax Christi in regno Christi" entfaltete er eine Phase intensiver Kirchendiplomatie. Ihm ging es nicht zuletzt um die Anerkennung der Kirche als Völkerrechtssubjekt. Es folgte eine neue Ära der Konkordate. Sie bereitete den Weg für einen seiner wichtigsten Erfolge: die Verabschiedung der Lateranverträge 1929 und damit die Lösung der Römischen Frage.
Die Lateranverträge hatten fatale Folgen
Auch der "Duce del Fascismo", Benito Mussolini, war an diesem prestigeträchtigen Erfolg interessiert. Pius XI. erkannte die einmalige Gelegenheit, die ein halbes Jahrhundert brodelnde römische Streitfrage um die rechtliche Stellung des Vatikans zu regeln. Die intensiven Verhandlungen mündeten in ein Abkommen mit politischen, finanziellen und religiösen Beschlüssen. Vom Jubel der katholischen Bevölkerung Italiens begleitet, schrieben die Lateranverträge die Souveränität und Unabhängigkeit des Vatikanstaates mit seinen 44 Hektar fest. Die Kirche wurde für die verlorenen Gebiete mit 1,75 Milliarden Lire entschädigt. Rom wurde als Hauptstadt anerkannt. Der Klerus hatte unpolitisch zu sein und sich auf den religiösen Raum zu konzentrieren.
Dieser Verständigungsfrieden war jedoch weniger der Sympathie des Papstes für die faschistische Bewegung geschuldet – Pius XI. äußerte ernste Sorgen über den Führerkult Mussolinis und später über die Rassegesetzgebung – als vielmehr seiner realpolitischen Einsicht. Zuvor war eine Verständigung mit den demokratischen Regierungen nicht möglich gewesen. Sie hatten an der absoluten Souveränität des Staates festgehalten. Ein einigendes Band war nun ein gemeinsamer Erzfeind: der Kommunismus.
Die Wirkung der Lateranverträge war zugleich aber fatal für die politischen Entwicklungen in Italien: Hatten sich die Katholiken zuvor größtenteils mit Verweis auf den Papst und ihren Glauben von Mussolini distanziert, ließ Pius' Politik diese Position nun nicht mehr durchhalten. In katholischen Kreisen fand der „Duce“ deshalb immer mehr Anhänger. Doch auch in der Folgezeit blieben Konflikte zwischen Pius XI. und Mussolini nicht aus – etwa bei Fragen zur Jugenderziehung.
Nach den Verträgen zwischen Italien und dem Vatikan versprach sich der Papst diese auch bei dem Konkordat mit dem Deutschen Reich, das 1933 geschlossen wurde. Mit der Weimarer Republik waren entsprechende Verhandlungen noch gescheitert. Mit klaren politischen Interessen ging Pius XI. auch auf die Offerte des neuen Reichskanzlers Adolf Hitler ein. Stieß die nationalsozialistische Ideologie bis dahin auf heftige Ablehnung unter Katholiken und Bischöfen, folgte aufgrund freundlicherer Töne des Kanzlers nach der Machtergreifung ein vorsichtiger Stimmungsumschwung.
Hitlers Absicht, mit den Verträgen international einen Prestigegewinn zu verzeichnen, durchschauten Pius XI. und seine Berater um den früheren deutschen Nuntius Eugenio Pacelli durchaus. Doch bot dieser Staats-Kirchen-Vertrag eine nicht zu unterschätzende rechtliche Verteidigungsmöglichkeit gegen die Machtmissbräuche Hitlers. Der schlachtete das am 20. Juli 1933 abgeschlossene Konkordat propagandistisch als Legitimation seines neuen Regimes aus – und förderte so auch die Integration der Katholiken. Zumindest auf den ersten Blick. Denn der Kirche war die Freiheit der Seelsorge sowie die der katholischen Organisationen garantiert worden. Doch es sollte anders kommen.
Pius XI. war sowohl Staatsmann als auch höchste Autorität der katholischen Kirche. In der Tradition Papst Pius‘ X. verfolgte er ein integralistisches Rechristianisierungsprogramm. Seine Vision einer harmonisch geordneten und alle modernen Dissonanzen vermeidenden Ordnung zeigte sich in seiner "Reich Christi"-Vorstellung: Frieden sei nur möglich, wenn sich die Welt umfassend zu Gott bekehrt habe. Die Einführung des Christkönigfestes 1925 fand hier ihren höchsten Ausdruck. Sie vermittelte die Hoffnung, Zeitirrtümern zu überwinden und stellte gleichzeitig einen Kontrast zur weltlichen Herrschaft dar. Diese Theologie fügte sich ein in eine vielseitige Strategie angesichts der totalitären Aggressoren der Zwischenkriegsjahre. Die christliche Lehre sollte zur allumspannenden Richtschnur des politischen und gesellschaftlichen Lebens werden. Die Laien verstand Pius XI. als die "Miliz des Christkönigs" und mit der Katholischen Aktion sollten sie die Anliegen der Kirche dort vertreten, wo sie nicht gehört werden.
Pius XI.: Zwischen "Lichtgestalt" und "Dunkelmann"
In den späten Jahren seines Pontifikats verurteilte Pius XI. öffentlich die Politik der Diktatoren. Historische Bedeutung erlangte seine Enzyklika "Mit brennender Sorge" vom 14. März 1937, die auf geheimen Wegen an 11.500 Kirchen gelangte. Sie verurteilte die nationalsozialistische Ideologie mit ihrem antichristlichen Rassekult, die Verfolgung von Katholiken und den Antisemitismus. Während das Hitler-Regime nach der aufsehenerregenden Enzyklika zum Gegenschlag ausholte, wollte Pius XI. ein weiteres Mal vor der Weltöffentlichkeit in seiner Enzyklika "Humani Generis Unitas" die Verbrechen gegen die Menschlichkeit brandmarken. Doch wurde die Fertigstellung intern verzögert. Währenddessen verstarb Pius XI. am 10. Februar 1939 – zur geplanten Rede sollte es nicht mehr kommen.
Ob "Lichtgestalt" oder tragischer "Dunkelmann", der leichtfertig die Machtentfaltung totalitärer Regime tolerierte – ähnlich wie die Ära seines direkten Nachfolgers Pius XII. wird auch sein Wirken jüngst kontrovers diskutiert. Dabei wird ihm zwar politischer Scharfsinn attestiert, während es ihm an moralischer Integrität gemangelt habe. Als Papst der Zwischenkriegszeit bereitete dieser Papst tatsächlich weitsichtig staatsrechtliche Wege, um die Kirche auf die politischen Umbrüche vorzubereiten und abzusichern.
Pius XI. war somit ein politisch wacher Geist, der in einer Umbruchszeit für die Interessen der katholischen Kirche gerade aber für ihre Seelsorgsmöglichkeit schmale Grate zu gehen bereit war. Gleichzeitig orientierte er sich mit seinem integralistischen Denken an der Christkönigsherrschaft und forderte von Katholiken die gehorsame Unterordnung unter die Autorität der Hierarchie. Er hielt an der Trennung zwischen Kirche und Staat fest und verlor nicht den Glauben an eine hierarchische, autoritäre Gesellschaft, die nach kirchlichen Prinzipien zu führen sei. Dabei vergaß er nicht, wie seine Sozialenzyklika "Quadragesimo anno" von 1931 zeigt, wegweisende Schritte für sozialen Frieden zu ebnen.