Studien zu Gewalt bei Domspatzen: Der Chor war alles
Ein in sich geschlossenes System hat die Übergriffe bei den Regensburger Domspatzen erst möglich gemacht. Zu diesem Schluss kommen zwei am Montag in Regensburg vorgestellte wissenschaftliche Studien für die Jahre 1945 bis 1992. Sie waren vom Bistum Regensburg beim Lehrstuhl für Bayerische Landesgeschichte der Universität Regensburg und bei der kriminologischen Zentralstelle (KrimZ) in Wiesbaden in Auftrag gegeben worden.
Keine Kontrollen
Die Geschichte der Erziehungspraxis bei den Domspatzen ist nach den Worten des Historikers Bernhard Löffler auch eine des institutionellen Versagens kirchlicher wie staatlicher Instanzen. Weder von innen noch von außen habe es Kontrollen gegeben. Die meisten Verantwortlichen hätten über keine pädagogische Ausbildung verfügt. Schule und Internat seien letztlich nur wichtig gewesen, um "gute Stimmen" zu rekrutieren. Der Einzelne habe dabei nichts gezählt, die Qualität des Chores aber alles.
Besonders schlimm sei die Gewalt an der Vorschule für Dritt- und Viertklässler gewesen, erinnerte Löffler. Dessen Direktor habe sadistische Methoden angewandt, die weit über die in Bayerns bis 1983 erlaubten körperlichen Züchtigungsrechte hinausgegangen seien. Die Physische wie auch sexuelle Gewalt bei den Domspatzen hat laut dem Historiker nichts mit den Folgen der 1968-er Pädagogik zu tun, wie es jüngst der emeritierte Papst Benedikt XVI. geäußert habe.
„Nur die Wahrheit wird uns frei machen.“
Die Einschätzung von Domkapellmeister Georg Ratzinger ist laut den Untersuchungen ambivalent. Während der Chorproben habe er zu Jähzorn und überzogener Strenge geneigt, die Körperstrafen und psychische Demütigungen zur Folge hatten. Nach der Chorprobe habe er sich aufgeschlossen für die Sorgen der Jungen gezeigt.
Die Vorschule beschreibt die KrimZ-Studie als "totale Institution", die alle Lebensbereiche der Schüler steuerte. Hier seien "eigene moralische Maßstäbe" gesetzt und eine Atmosphäre der Angst erzeugt worden. Strafen seien zu allen Tages- und Nachtzeiten ausgeführt worden. Der Sozialwissenschaftler Martin Rettenberger konstatierte, dass eine Reihe von Maßnahmen zu einer nachhaltigen Aufarbeitung ergriffen worden seien. Doch auch Prävention brauche eine permanente Reflexion. "Sie ist und bleibt ein Dauerauftrag für jede Institution."
Der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer sagte, mit diesen Dingen konfrontiert zu werden, sei immer wieder bedrückend. Dazu komme, dass er aufgrund seiner Gespräche mit Opfern oft auch ein Gesicht und einen Namen vor Augen habe. Die Studien seien aber wichtig gewesen, um Licht in die Sache zu bringen, denn: "Nur die Wahrheit wird uns frei machen." Er sei all jenen dankbar, die sich an der Studie beteiligt hätten.
Knapp 4 Millionen Euro an Opfer gezahlt
Für bei den Domspatzen erlittene Gewalt wurden laut Voderholzer bisher Annerkennungszahlungen in Höhe von insgesamt 3,785 Millionen Euro geleistet. Die Einzelsummen bewegten sich in einer Spanne zwischen 2.500 und 25.000 Euro. Laut einem bereits im Jahr 2017 veröffentlichten Untersuchungsbericht eines unabhängigen Sonderermittlers wurden bei den Regensburger Domspatzen knapp 550 Jungen Opfer von Missbrauch. Die damalige Untersuchung ging zudem von einer Dunkelziffer von rund 700 Opfern aus.
Insgesamt 500 Domspatzen haben demnach seit 1945 körperliche Misshandlungen erlitten, 67 sexuelle Gewalt. Einige wurden Opfer beider Formen von Gewalt. Als mutmaßliche Täter wurden 2017 49 Personen ermittelt, 9 von ihnen seien sexuell übergriffig geworden. Unter den Tätern waren laut der Untersuchung Internatsdirektoren, ein Vorschuldirektor, Präfekten und viele Angestellte vertreten. Schwerpunktmäßig haben sich die Taten laut Bericht in den 1960er und 1970er Jahren ereignet. Bis 1992 sei durchgängig von körperlicher Gewalt berichtet worden. (gho/KNA)