Versteckt auf dem Rücksitz eines Autos zum Haus des Bischofs
Der tschechische Religionsphilosoph Tomas Halik wurde vor 40 Jahren, am 21.Oktober 1978, im Geheimen in Erfurt für die tschechoslowakische Untergrundkirche zum Priester geweiht. Wenige Tage zuvor war der Krakauer Erzbischof Karol Wojtyla im Konklave im Vatikan zum neuen Papst Johannes Paul II. gewählt worden. Seine erste Messe feierte Halik in Erfurt zusammen mit Weihbischof Joachim Meisner, dem späteren Kölner Kardinal. Katholisch.de dokumentiert die entsprechende Passage aus Haliks Autobiografie, in der er über seine geheime Weihe schreibt:
Danach war alles für meine geheime Priesterweihe bereit und wir warteten nur noch auf eine konspirative Benachrichtigung aus Deutschland. Da erreichte uns aber die Nachricht vom Tod Papst Pauls VI. und kurze Zeit darauf auch vom Tod von dessen Nachfolger, Johannes Paul I. Wir dachten, dass nun vielleicht die geheimen Weihen eingestellt würden, dass man die Ankunft des neuen Papstes abwarten würde sowie seinen Standpunkt zur Untergrundkirche des "Ostblocks". Trotz dieser Ereignisse kam aber von Weihbischof Meisner die verschlüsselte Nachricht, ich solle kommen.
Kurz vor der Abfahrt war ich bei meinem Beichtvater, um meine Lebensbeichte abzulegen. Danach legten wir auf einem kleinen Tischchen alles Nötige für die Messe bereit und schalteten noch für einen Moment das Radio an, denn im Vatikan lief gerade das Konklave. Noch in den Nachmittagsnachrichten hatte man allgemein geurteilt, dass es erst in einigen Tagen zur Wahl eines neuen Pontifex kommen würde. Aus dem Sender des Vatikans ertönte jedoch eine aufgeregte Meldung, die das gewöhnliche Programm unterbrach und auf den Petersplatz umschaltete, von dem gerade die Worte in die ganze Welt drangen: "Annuntio vobis gaudium magnum! Habemus papam! – Ich verkünde euch eine große Freude, wir haben einen Papst! Den hochwürdigen Herrn Karol – Kardinal der Heiligen Römischen Kirche – Wojtyła!" Ein Papst aus dem Osten! Ich war wie vom Blitz getroffen. Jedes Wort war zu schwach, um unsere Freude auszudrücken. Kaum waren die Worte des Kardinals verklungen, begannen wir eine Messe zu feiern – wer weiß, ob dies nicht überhaupt die erste Messe auf der Welt für den neuen Papst gewesen ist? (...)
Und es kam die Nacht und es kam der Morgen, der Tag der Anfahrt brach an. Wenn ein Mensch zur Priesterweihe fährt, betet er viel und hat reichlich Stoff zum Nachdenken. Dennoch kann ich mich an zwei humorvolle Geschichten während der langen Reise erinnern. Kurz vor Erfurt setzte sich in dem überfüllten Zug eine junge deutsche Frau von ungefähr sechzehn Jahren neben mich, die mit einer solch leidenschaftlichen Hingabe in ihrem Buch las und die so laut seufzte, dass ich nicht wiederstehen konnte und ihr über die Schulter blickte. Sie enträtselte irgendeinen sexualkundlichen Ratgeber für junge Frauen, gerade bewältigte sie das Kapitel "Französischer Kuss". Sie fuhr offenbar zu einem Rendezvous und brannte schon vor Ungeduld, die neu gewonnenen Erkenntnisse in der Praxis zu erproben. Mir wurde klar, dass ich in der gleichen Stadt und annähernd zur gleichen Zeit die Verpflichtung zur lebenslangen sexuellen Enthaltsamkeit auf mich nehmen würde, und ich musste lächeln angesichts der Koinzidenz und der Mannigfaltigkeit menschlicher Wege.
In Erfurt hatten die ostdeutschen Genossen den gesamten Bahnhof mit einem roten Transparent behängt, auf dem das Lenin-Zitat zu lesen war: "Aus dem Funken schlägt die Flamme". Auch aus dem unseren, sagte ich mir im Geiste, nur dass unsere Flamme wesentlich länger brennen wird als die eure. Nun, ich dankte Wladimir Iljitsch für die ganz passende Begrüßung beim Betreten der Stadt, in der ich in einigen Stunden Priester werden sollte – oder mit den Worten des Alten Testaments ausgedrückt, ein Feueropfer für den Herrn. Ich dachte wieder an den Tag, an dem Jan Palach starb, an meine damalige Meditation darüber, was ich tun würde, wenn ich in der Tasche ein Papier mit den Worten "Fackel Nummer zwei" hätte. Ich war dreißig Jahre alt, etwas starb in mir und etwas Neues sollte geboren werden.
Vor meinem eigenen Weiheritus verbrachte ich drei Stunden in Einsamkeit und Gebet in der Kapelle der Ursulinenschwestern Am Anger. Ich machte mir die Bedeutung des Augenblicks bewusst, in dem ich das "unauslöschbare Zeichen" vom Priestertum Christi empfange. Was geschehen würde, ließe sich nie mehr ungeschehen machen. Ich führte mir meine Freiheit gänzlich vor Augen: Wenn ich jetzt nein sagte, würde sich mein ganzes Leben offenbar ganz anders entwickeln, jetzt halte ich meine ganze Zukunft in Händen. Und in dem Moment ging mir auf, wie nie zuvor, dass ich durch die freie Wahl einer Möglichkeit und das Verbrennen aller anderen Brücken hinter mir meine Freiheit nicht vernichte, sondern verwirkliche. Ja, Abraham vertraute dem Herrn und machte sich auf den Weg, obwohl er nicht wusste, wohin er ging.
Warum sich fürchten? Liebt Er mich etwa nicht, Er, welcher der Weg ist, und kennt Er mich nicht besser, als ich mich selbst kenne, ist Er denn nicht weiser und mächtiger als ich, der ich mein Leben aus der Perspektive meines kleinen Ego lenken will, wenn doch das wirkliche Zentrum meines Lebens und des Lebens überhaupt Er ist? Kann ich überhaupt etwas Anderes und Besseres sagen als das Wort, das ich in kurzer Zeit vor dem Bischof sprechen werde, "ADSUM! – Hier bin ich!" Ich ließ die Zügel los und die Sorgen aus dem Herzen fahren und trat den Weg an.
Es war Samstag, der 21. Oktober 1978; abends nach fünf Uhr wurde ich vom Bischof Aufderbeck in der Privatkapelle seiner Residenz im Schatten des Erfurter Domes zum Priester geweiht. Zum Haus des Bischofs wurde ich auf dem Rücksitz eines Autos unter einem Mantel versteckt gefahren; auch wenn die Kirche in der DDR größere Freiheit genoss, waren wir dennoch nicht sicher, ob nicht eine versteckte Kamera der ostdeutschen Geheimpolizei auf den Eingang zur Bischofsresidenz gerichtet war. Das Thema der Predigt des Bischofs waren drei Worte aus der Liturgie: respice – suspice – accipe, blicke zurück, nimm auf dich und empfange.
In jener Nacht konnte ich nicht schlafen. Am nächsten Tag hielt ich sehr früh am Morgen meine erste Messe in derselben kleinen Kapelle der Schwestern, in der ich am Nachmittag des Vortages vor dem Weiheritus meditiert hatte. Mit mir konzelebrierten der Weihbischof Meisner und Pater Vaclav Dvorak, die Kapelle war ganz leer. Diese Messe widmete ich vor allem dem neu gewählten Papst. Wir wollten enden, bevor die Schwestern kämen, um das Morgenlob zu beten. Der Gottesdienst zog sich jedoch in die Länge, und so kam es, dass die Kapelle schließlich voller Schwestern war, die offenbar erkannt hatten, was vor sich ging, wenn einem jungen Priester ein Bischof sowie ein älterer grauhaariger Priester zur Hand gingen. Eine der Ordensschwestern trat an den Bischof heran und fragte, ob die Schwestern ein Te Deum singen dürften. Und so endete meine Messe mit dem Lobgesang dieser Ordensgemeinschaft, der sowohl bejahrte Schwestern als auch junge Novizinnen angehörten. Ich war froh darüber, denn zu Ordensschwestern habe ich zeit meines Lebens ein sehr enges Verhältnis gehabt, ich nehme sie wirklich als meine Schwestern wahr.
Nach der Messe machten wir uns zusammen mit dem Weihbischof Meisner auf den Weg, um die direkte Übertragung der Inthronisation des Papstes im westdeutschen Fernsehen anzusehen, und hörten seine erste Ansprache, die in den Worten gipfelte: "Fürchtet euch nicht!" Es war uns klar, dass der erste slawische Papst einen großen Einfluss auf die Veränderungen im Leben auch unserer, der tschechischen Kirche haben würde, vielleicht auf das Schicksal ganz Europas. Mir wurde bewusst, dass ich wahrscheinlich der erste Priester überhaupt war, der während seines Pontifikats geweiht wurde.