Wie der moderne Pilger tickt – und was er braucht
Seit Jahrhunderten gehört Pilgern zur katholischen DNA. Schon in der Spätantike besuchten Gläubige die bedeutendsten Stätten im Heiligen Land, um die in der Bibel beschriebenen Wirkungsstätten Jesu live zu sehen. Mit Beginn der Heiligenverehrung wurden auch die Gräber der Märtyrer zu Anziehungspunkten der Pilgernden. Für eine solche Reise nahmen Menschen große Strapazen und Gefahren auf sich. Zum Teil waren sie monatelang unterwegs.
Bis heute haben gerade weit entfernte Pilgerziele nichts von ihrer Faszination verloren. Die Besucherzahlen beispielsweise in Santiago de Compostela sprechen eine deutliche Sprache. Jakobswege gibt es in Europa viele – der berühmteste unter ihnen ist der "Camino frances", der durch Nordspanien zum Grab des Apostels Jakobus führt. Ein ebenfalls sehr alter Pilgerweg, die "Via francigena", führt von Canterbury über Frankreich und die Schweiz nach Rom zu den Gräbern der Kirchenfürsten Petrus und Paulus.
Herkunft, Bildung und Stand spielten im Mittelalter eine große Rolle. Doch beim Pilgern war die soziale Stellung schon immer zweitrangig. Das begeisterte gerade Menschen aus den unteren Schichten, wodurch das Pilgerwesen schon damals einen Boom erlebte. Damals waren die Menschen aus religiösen Gründen unterwegs: Sie pilgerten aus Angst um das Seelenheil, aus Dankbarkeit, aufgrund eines Gelübdes oder als Buße.
Dossier: Pilgern: Auf dem Weg zu Gott
Ob nach Lourdes, Fatima, Santiago oder Kevelaer: Jährlich pilgern etwa 40 Millionen Christen. Katholisch.de stellt die Tradition der Wallfahrt, wichtige Bräuche und bekannte Pilgerziele vor.Einen erneuten Aufschwung hat das Pilgern in den vergangenen Jahrzehnten erlebt. Wenn auch das Standesdenken keine Rolle mehr spielt, gibt es doch verschiedene Beweggründe, warum Menschen heutzutage pilgern. "Dahinter stecken eher spirituelle Motive, wie etwa die Stille genießen oder zu sich selbst zu finden", sagt der Kölner Religionssoziologe Markus Gamper. Er war selbst schon einmal auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela unterwegs – allerdings in erster Linie zu Forschungszwecken.
Den religiösen Pilger gebe es zwar noch, so Gamper. Daneben ließen sich jedoch weitere Pilgertypen ausmachen. So gebe es den Pilger, der einfach aus dem Alltag aussteigen will. Daneben ist der "Tourigrino" unterwegs, eine Mischung aus dem Wort Tourist und dem spanischen Begriff für Pilger, "peregrino". Dieser möchte die Landschaften sehen und sucht nach Entspannung. "Dann ist da noch der Sportpilger, der möglichst viele Kilometer machen will, und der Spaßpilger, der das Ganze einfach ausprobieren will und abends mit seiner Gitarre am Lagerfeuer sitzt", sagt Gamper.
Die Reiseunternehmen reagieren
Reiseunternehmen, deren Kerngeschäft Pilgerreisen sind, wissen, dass der moderne Pilger nicht mehr unbedingt kirchlich gebunden ist – und reagieren darauf. So wie das Bayerische Pilgerbüro, das in München seinen Sitz hat und von den bayerischen Bistümern getragen wird. Seit 1925 hat es bereits Millionen Menschen zu den heiligen Stätten der Christenheit gebracht – zu Fuß, per Bahn oder mit dem Flugzeug. Im Jahr 2018 waren es circa 700 Reisen mit 23.000 Teilnehmern.
Einen Großteil des Programms machen nach wie vor die Reisen zu den bekannten Pilgerorten wie etwa das Heilige Land, Rom, Lourdes oder Fatima aus – darunter auch die sogenannten Reisen nach Maß, die das Bayerische Pilgerbüro auf Anfrage für Pfarreien oder Diözesen erstellt. Daneben setzt man verstärkt auf Studien-und Wanderreisen, die nicht unbedingt ein dezidiert katholisches Profil haben – und auf den Jakobsweg nach Santiago de Compostela, der eine Mischung aus Pilger-und Wanderreise ist. So hat sich auch das Spektrum an Leuten, die mit dem Bayerischen Pilgerbüro reisen, erweitert. "Wir haben auch Teilnehmer, die mit der Kirche Schwierigkeiten haben oder gar nichts anfangen können", sagt Pilgerbüro-Mitarbeiterin Patrizia Jagiella. Diese schätzen allerdings die Organisation sowie die Atmosphäre in der Reisegruppe.
Irmgard Jehle, Vizepräsidentin des Bayerischen Pilgerbüros und Reiseleiterin, hat bereits einige Pilgergruppen etappenweise auf dem Weg nach Santiago de Compostela begleitet. Eine Gruppe besteht aus bis zu 25 Teilnehmern verschiedenen Alters, verschiedener religiöser Prägung – und verschiedener Fitness. "Wir achten darauf, dass jeder sein individuelles Tempo gehen kann", sagt Jehle. Damit sich die Gruppe allerdings nicht komplett verliert, werden vor jeder Etappe Treffpunkte ausgemacht, bei denen sich alle Pilger wieder einfinden. Dazu gibt es Gepäcktransport und gebuchte Unterkünfte.
So unterschiedlich ihre religiöse Sozialisation ist, so unterschiedlich sind auch die spirituellen Bedürfnisse der Teilnehmer. Dem versucht das Bayerische Pilgerbüro gerecht zu werden, indem es die Reiseleiter entsprechend schult. "Sie sollen ein Gespür dafür bekommen, wo ein spiritueller Impuls angebracht ist, wo man den Leuten etwas an die Hand geben kann, was sie zu einem vertieften Erlebnis dessen führt, was gerade vonstattengeht", erläutert Jagiella. Für die Teilnehmer sei es entscheidend, etwas von der Reise für ihren Alltag mitzunehmen. "Der Kunde will mit einen angefüllten Herzen zurückkommen und sagen: Das hat mich wirklich weitergebracht." Man wolle die Teilnehmer aber nicht spirituell überfrachten.
Individuell zugeschnittene Angebote
Wer sich bewusst gegen das Pilgern in der Gruppe entscheidet und stattdessen alleine unterwegs sein möchte, kann sich auch an das Bayerische Pilgerbüro wenden. Für sie hat das Unternehmen das Angebot "Jakobsweg individuell" für ausgewählte französische und spanische Etappen des Jakobswegs parat. Die Kunden können zu ihrem Wunschtermin aufbrechen – das Rahmenpaket mit Übernachtungen in kleinen Hotels oder Pensionen wird für sie gebucht.
Das Pilgern ist individueller geworden, sei es in der Motivation oder in der Ausführung. Doch egal, ob sie allein oder in der Gruppe gehen, ob sie gläubig sind oder areligiös – eines hätten alle Pilger gemeinsam, sagt Religionssoziologe Markus Gamper: Sie sind Suchende. "Die Leute stellen sich unterwegs Grundfragen des Lebens. Ob sie eine Antwort finden, steht auf einem anderen Blatt." Der Pilgerweg liefere aber die passende Metapher für dieses Suchen – deswegen seien so viele Leute weltweit auf ihnen unterwegs.
Nicht alle begännen dabei als klassische Pilger, aber viele würden es im Laufe des Weges – durch die Begegnungen mit anderen sowie die Auseinandersetzung mit sich selbst, sagt Irmgard Jehle. "Sie werden sich unterwegs gegenseitig zum Seelsorger." Die Vizepräsidentin des Bayerischen Pilgerbüros ist überzeugt: Beim Pilgern können die Menschen die Kirche in ihrer ursprünglichen, positiven Grundstruktur erleben. Das weiß auch das Bayerische Pilgerbüro – und wird weiterhin die Pilgerangebote auf neue Zielgruppen zuschneiden.
Viele möchten gerne länger zu Fuß pilgern, scheuen aber den Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Für sie hat Irmgard Jehle einen Geheimtipp: den Franziskusweg von Assisi nach Rom. Aber auch zum Grab des Apostels Jakobus kann man pilgern, ohne – im wahrsten Sinne des Wortes – dem Mainstream zu folgen: "Auch in Portugal gibt es einen Jakobsweg, der nach Santiago führt."