Neutestamentler Gerd Häfner über das "Glaubensmanifest"

Wie die Bibel bei Kardinal Müller unter die Räder kommt

Veröffentlicht am 18.02.2019 um 13:00 Uhr – Lesedauer: 

München ‐ Mit seinem "Glaubensmanifest" will Kardinal Gerhard Ludwig Müller der "Verwirrung" der Gläubigen entgegentreten. Dafür greift er nicht nur auf den Katechismus, sondern auch auf die Bibel zurück. Doch die gerät dabei "ziemlich unter die Räder", sagt der Bibelwissenschaftler Gerd Häfner.

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Kardinal Gerhard Ludwig Müller weiß, wo es langgeht auf dem Weg zum Heil – und auf dem zum Unheil. So haben ihn denn "viele Bischöfe, Priester, Ordensleute und Laien der katholischen Kirche … um ein öffentliches Zeugnis für die Wahrheit der Offenbarung gebeten". Es gibt keinen Grund, dies zu bezweifeln. Man hat allerdings seit einiger Zeit den Eindruck, dass Kardinal Müller derlei Bitten nicht braucht, um sich zu öffentlicher Äußerung gedrängt zu fühlen. So sieht er denn auch in dem nun publizierten Glaubensmanifest eine erhebliche Bedrohungslage, die eine Belehrung nicht nur auf Nachfrage als angemessen erscheinen lässt: "Heute sind vielen Christen selbst die grundlegenden Lehren des Glaubens nicht mehr bekannt, so dass die Gefahr wächst, den Weg zum Ewigen Leben zu verfehlen."

Zuverlässige Orientierung unter den Bedingungen einer Diktatur – und zwar der derjenigen des Relativismus – gibt der Katechismus. 36 Einzelnummern, dazu noch einmal zwei Abschnitte mit insgesamt 46 Nummern werden angeführt als "sichere Norm für die Lehre des Glaubens (Fidei Depositum IV)" – von zentralen dogmatischen Aussagen zur Dreieinigkeit bis hin zur Aufgabe des Lehramts, "das Volk vor Verirrungen und Glaubensschwäche zu schützen".

In die zahlreichen Katechismus-Belege eingearbeitet sind auch einige biblische Aussagen. Die Art und Weise, in der das geschieht, erinnert an Verfahren, die man als "Steinbruch-Exegese" bezeichnet hat, um das Interesse an bloßen Textbruchstücken zu kennzeichnen. Diese Metaphorik hat den Nachteil, dass sie ohne Sachgrund das Moment der Mühe anklingen lassen könnte. Die Bibel erscheint hier aber weniger als Formation, der unter großer Anstrengung etwas abgerungen werden müsste, denn als Selbstbedienungsladen, in dessen Regalen einzelne Kleinartikel griffbereit angeboten werden.

Verwirrung – durch was?

Das Problem beginnt bereits in der Überschrift. Das Manifest beansprucht, der Verwirrung entgegenzutreten und damit auf der Spur des Jesuswortes in Joh 14,1 zu sein. Nun ist Verwirrung eine recht subjektive Angelegenheit. Eine Erwiderung könnte mit derselben Leichtigkeit Joh 14,1 als Überschrift nehmen, da davon auszugehen ist, dass auch das Müllersche Glaubensmanifest zur Verwirrung beiträgt – nur bei anderen Leuten.

Bild: ©KNA/Bob Roller/CNS photo

Kardinal Gerhard Ludwig Müller war von 2012 bis 2017 Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation.

Oder ist das die falsche Verwirrung, weil der Kardinal doch Paulus und die Tradition auf seiner Seite hat? Das sollen wir zumindest glauben, denn bei der Wahrnehmung der Hirtenaufgabe "gilt das Wort des Apostels: 'Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe' (1 Kor 15,3)". Es gilt hier allerdings in viel stärkerem Maß das Wort des Kardinals als das des Apostels, denn zu diesem hätte unbedingt die Fortsetzung dazugenommen werden müssen. Paulus äußert sich ja nicht grundsätzlich zur Orientierung an der Tradition, sondern leitet damit das Zitat einer Glaubensformel zu Tod und Auferweckung Christi ein (1 Kor 15,3-5). Wenn ich recht sehe, wird über diese zentrale Aussage der neutestamentlichen Christusbotschaft derzeit keine Debatte geführt, die zu irgendeiner Verwirrung Anlass geben könnte.

Die Katechismus-Schrift

Der mangelnden Bekanntheit der grundlegenden Lehren des Glaubens wird gegengesteuert durch zentrale Punkte in Gotteslehre und Christologie, Ekklesiologie, Sakramentenlehre, Ethik und Eschatologie. Zum ersten Punkt wird in eine Reihe von fünf Belegstellen aus dem Katechismus immerhin eine neutestamentliche Aussage eingebaut – allerdings auf bemerkenswerte Weise: Die spätere dogmatische Aussage begründet das Schriftzeugnis: "Daher bezeichnet der erste Johannesbrief denjenigen als Antichrist, der seine Gottheit leugnet (1 Joh 2,22), da Jesus Christus, der Sohn Gottes von Ewigkeit her eines Wesens ist mit Gott, Seinem Vater (663)."

Das Schriftwort wird recht frei so wiedergegeben, dass sich die am Glaubensbekenntnis angelehnte Formulierung möglichst glatt anschließen kann. Durch die Begründungsstruktur erscheint die Schriftaussage sachlich nachgeordnet. Sicher haben sich die späteren Definitionen der Konzilien als Entfaltung des Schriftzeugnisses verstanden, es soll hier nicht das sachliche Recht des zitierten Zusammenhangs bestritten werden. Dennoch sagt die Umkehrung der Begründung etwas über den vorausgesetzten Stellenwert biblischer Texte aus. Diese Vermutung bestätigt das Glaubensmanifest insofern, als es das Zeugnis der Schrift – ohne den Umweg über die Bibel – auch direkt mit dem Katechismus belegen kann: "Die Ewigkeit der Höllenstrafe ist eine furchtbare Wirklichkeit, die – nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift – sich alle zuziehen, die 'im Stand der Todsünde sterben' (1035)."

„Das Neue Testament kommt im Glaubensmanifest ziemlich unter die Räder.“

—  Zitat: Der Bibelwissenschaftler Gerd Häfner über das "Glaubensmanifest"

Eine solche Verkürzung ist insofern praktisch, als die Aussage nur auf sehr verschlungenen Wegen als Zeugnis der Schrift zu markieren gewesen wäre. Das unmittelbar angeschlossene Gerichtswort aus Mt 7,13 belegt jedenfalls den beanspruchten Gedanken nicht: "Der Christ geht durch das enge Tor, denn 'weit ist das Tor und breit der Weg, der ins Verderben führt, und es sind viele, die auf ihm gehen' (Mt 7,13)." Textpragmatisch ist ein solcher Spruch als Mahnung zu lesen, nicht als Mitteilung über das Gericht, schon gar nicht dahingehend, dass den Christen eine Garantie zugesagt wäre. Die zusichernde Feststellung, der Christ gehe durch das enge Tor (zum Leben: Mt 7,14), ist so ziemlich das Gegenteil dessen, worauf dieser Text bei seinen Adressaten hinauswill: die Einschärfung der Bergpredigt als in die Praxis umzusetzende Weisung.

Das "andere Evangelium" haben immer die anderen

Während die Aussagen zur Kirche ganz ohne Bezug auf die Schrift auskommen, wird diese zur sakramentalen Ordnung gleich dreimal bemüht – allerdings auf durchaus verwirrende Weise. Dass das Amt in der Kirche durch Christus eingesetzt sei, wird mit Bezug auf Gal 1,6-8 kommentiert: "Die Mahnung des Apostels gilt bis heute, dass verflucht sei, wer ein anderes Evangelium verkündet, 'auch wenn wir selbst es wären oder ein Engel vom Himmel'."

Dass Paulus mit dem Ausschluss eines "anderen Evangeliums" zu einem ganz anderen Thema gesprochen hat, bleibt ausgeblendet. Wer sich derartig am Bibeltext bedient, schreckt auch nicht davor zurück, mit ihm nach anderen zu werfen. Unter Bezug auf 2Tim 4,3f heißt es: "Hier trifft das Wort der Schrift diejenigen, die der Wahrheit kein Gehör schenken und sich nach eigenen Wünschen richten, die den Ohren schmeicheln, weil sie die gesunde Lehre nicht ertragen."

Solche Sätze sind beliebig anwendbar; man muss nur davon ausgehen, auf der Seite der Wahrheit zu stehen. Wer ständig vor der Anpassung an den Zeitgeist warnt oder sich warnen lässt, weiß schon, wie die "Lehrer, die den Ohren schmeicheln", aktuell einzuordnen sind. Nur stören kann da die Erkenntnis, dass die von den Pastoralbriefen propagierte "gesunde Lehre" auf der Umgestaltung der paulinischen Tradition beruht, und dies die Aufnahme von Wertmaßstäben der Umwelt ("Zeitgeist") einschloss.

Griechisch hilft

In der Frage der Zulassung zur Eucharistie ist die Argumentation mit 1Kor 11,27 geradezu ein Klassiker und deshalb der Schriftbeleg, der im Glaubensmanifest am wenigsten überrascht. Da das eucharistische Opfer "auf die innigste Vereinigung mit Christus" ziele, mahne "die Heilige Schrift im Hinblick auf den Empfang der hl. Kommunion: 'Wer also unwürdig von dem Brot isst und aus dem Kelch des Herrn trinkt, macht sich schuldig am Leib und am Blut des Herrn'."

Heiligenfiguren auf dem Dach des Petersdoms in Rom.
Bild: ©andrea-goeppel.de/

"Unwürdig" von dem Brot essen und aus dem Kelch trinken: Was meint der Apostel Paulus (hier dargestellt als Statue vor dem Petersdom) mit dieser Aussage im 1. Korintherbrief wirklich?

In 1Kor 11,17-34 hat Paulus aber ein anderes Problem vor Augen als den Würdigkeitsstatus der Mahlteilnehmer. Eine solche Frage hat nicht nur keinerlei Verankerung im Kontext, sie erforderte auch einen anderen Wortlaut. Das mit "unwürdig" übersetzte Wort ist im Griechischen ein Adverb (ἀναξίως). Gesagt wird also nicht: "Wer als Unwürdiger das Brot isst und vom Kelch des Herrn trinkt ...", sondern: "Wer auf unwürdige Weise das Brot isst und vom Kelch des Herrn trinkt...". Dies bezieht sich auf die Mahlpraxis in der Gemeinde von Korinth, die auf die Beschämung der Armen hinausläuft. Die Selbstprüfung im folgenden Vers (11,28) ist in diesen Rahmen einzuordnen. Sie hat nichts zu tun mit der Notwendigkeit, im Fall schwerer Sünde vor der Teilnahme an der Eucharistie das Sakrament der Buße zu empfangen, das Paulus ja nirgends bezeugt. Indem die Schriftaussage (1Kor 11,27) im Glaubensmanifest ein einsames Dasein zwischen mehreren Katechismus-Nummern fristet, wird der inhaltliche Abstand zwischen beiden Größen überspielt.

Die Schrift als Mittel der Selbstbestätigung

Das Wort von der freimachenden Wahrheit in Joh 8,32 wird immer wieder gern zitiert, da sich mit ihm alles biblisch schmücken lässt, was als Wahrheit vorgestellt wird. Im Glaubensmanifest ist es das "sittliche Gesetz": Es ist "Teil jener befreienden Wahrheit (vgl. Joh 8,32), durch die der Christ den Weg des Heils geht und die nicht relativiert werden darf".

Wer die Wahrheit traditionsgesichert auf der eigenen Seite weiß, hat dann auch ein klares Bild von denen, die sich nach 2Thess 2,10 "der Liebe zur Wahrheit verschlossen" haben. Aktuelle Debatten werden auf diese Weise biblisch aufgeladen, ohne dass ein Sachargument in konkreten Streitfragen gegeben wäre. Wenn dadurch die Gegenseite noch dazu als Antichrist erscheint, bestärkt sich die eigene Position selbst. Die Schrift trägt dazu nichts bei. Sie wird nicht befragt, sondern benutzt.

Ganz plötzlich kann sie dann auch mit einem konfessionellen Zungenschlag sprechen: Es wird aufgerufen zur Bitte an den Herrn, "Er möge uns erkennen lassen, wie groß das Geschenk des katholischen Glaubens ist, durch den sich die Tür zum Ewigen Leben öffnet"; direkt im Anschluss wird vor dem Verspielen des Heils mit den Worten von Mk 8,38 gewarnt: "Denn wer sich vor dieser treulosen und sündigen Generation meiner und meiner Worte schämt, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er mit den heiligen Engeln in der Hoheit seines Vaters kommt." Dieses Jesuswort begründet in der Folge den Einsatz "für die Stärkung des Glaubens, indem wir die Wahrheit bekennen, die Jesus Christus selber ist" – als ob aus Mk 8,38 irgendein Anhaltspunkt für die vorgetragene Positionierung "[a]ngesichts sich ausbreitender Verwirrung in der Lehre des Glaubens" zu gewinnen wäre.

Exegese?

Wenn Kardinal Müller meint, in den gegenwärtigen Reformdebatten würde die kirchliche Tradition verraten, so ist dies eine Position, über die man reden und streiten kann. Dass ein knappes Glaubensmanifest ein geeignetes Mittel ist, nimmt wohl nur an, wer einen Gesprächs- und Reformbedarf gar nicht erkennt. Andere werden den konzentrierten Katechismus-Beschuss weniger hilfreich finden. Wie auch immer man sich hier positioniert: Das Neue Testament kommt im Glaubensmanifest ziemlich unter die Räder. Gebraucht wird die Schrift zur Darlegung der Glaubenslehre eigentlich nicht. Aber hin und wieder eingestreut, macht sie sich doch ganz gut im Aufmarsch der Katechismus-Nummern – jedenfalls solange man sie nicht nach ihrer eigenen Botschaft fragt. Dass diese Form der Bibelnutzung über 50 Jahre nach "Dei Verbum" immer noch geübt wird, macht ratlos. Ist Exegese nur ein Sandkasten für verspielte Bibelliebhaber, denen man die Freude an ihren Textförmchen nicht nehmen will? Ich muss gestehen, dass ich mein Arbeitsfeld anders verstanden habe.

Von Gerd Häfner

Der Autor

Gerd Häfner ist Professor für Biblische Einleitungswissenschaft an der Katholischen-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Außerdem ist er Autor des Blogs "LECTIObrevior", auf dem dieser Beitrag zuerst erschienen ist.