Zeichen oder Wirklichkeit? Die Lehre der Realpräsenz
Sie ist eine der zentralen Lehren der katholischen Kirche: der Glaube an die Realpräsenz, also daran, dass Christus in der Feier der Eucharistie in den Gestalten von Brot und Wein wirklich gegenwärtig ist. Die in der Wandlung konsekrierten Gaben sind also nicht nur als bloße Symbole oder Erinnerungszeichen an ihn, sein Wirken und das Letzte Abendmahl mit seinen Jüngern zu verstehen.
Doch der Glaube an die Realpräsenz ist in die Krise geraten. Kürzlich ergab eine Umfrage: Rund 70 Prozent der praktizierenden Katholiken in den USA glauben nicht daran, dass bei der Eucharistiefeier Brot und Wein in Leib und Blut Jesu Christi gewandelt werden. Stattdessen gaben die Befragten überwiegend an, dass Brot und Wein nur Symbole des Leibes und des Blutes Jesu Christi sind. Würde man die Umfrage in Deutschland durchführen, dürften vermutlich ähnliche Resultate dabei herauskommen.
"Signum, figura, similitudo"
Wer der Lehre der realen Gegenwart Christi in der Eucharistie auf den Grund gehen will, muss zunächst die Berichte vom Letzten Abendmahl im Neuen Testament untersuchen. Dort spricht Jesus mit Verweis auf Brot und Wein die bedeutsamen Worte, die später Eingang in das Eucharistische Hochgebet gefunden haben: "Nehmt, das ist mein Leib" und "Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird" (Mk 14,22.24). Das Prädikat "ist", im Griechischen "estin", soll eine reale Übereinstimmung zwischen Jesus und den Gaben anzeigen. Jesus versammelt also an einer entscheidenden Stelle, kurz vor seinem Tod, nochmal seine Jünger und fasst in diesem Doppelgestus gewissermaßen testamentarisch sein Wirken zusammen. Das sollte man sich zunächst vor Augen führen, bevor man isoliert über die Realpräsenz spricht, betont Jan-Heiner Tück, Dogmatikprofessor an der Universität Wien: "Jesus ist proexistent, er lebt also für Gott und die anderen Menschen. Diese Haltung hält er bis in den Tod hinein durch." Der von seinen Jüngern scheidende Jesus identifiziert sich selbst mit dem Brot, das er segnet, bricht und verteilt. Er nimmt in diesen Zeichen seinen Tod vorweg. Sein Sterben hat Heilsbedeutung, es kommt der Nachfolgegemeinschaft zugute.
Die Feier des Herrenmahls war, nicht zuletzt wegen des jesuanischen Wiederholungsbefehls, von Anfang an zentraler Bestandteil des Glaubenslebens der Christen. Als diese ihre Lehre aus dem jüdisch-palästinischen Raum in die hellenistische Welt hinein verbreiteten, mussten sie sie auch in griechische Denkformen übersetzen. Dabei bot sich das Urbild-Abbild-Schema der platonischen Philosophie an. Diese lehrte, dass die Begriffe, mit denen Menschen die Gegenstände der materiellen Wirklichkeit benennen, diese nicht exakt bezeichnen. Sie beziehen sich eigentlich auf übersinnliche reine "Ideen", welche die Urbilder liefern für die begrifflichen Abbilder. Für die Kirchenväter etwa sind Brot und Wein Abbilder des Urbildes Jesus Christus, der in abgeschwächter Weise in den konsekrierten Zeichen selbst anwesend ist. Für Augustinus ist das Sakrament der Eucharistie beispielsweise "signum, figura, similitudo" – Zeichen, Gestalt, Ähnlichkeit der Wirklichkeit Christi.
Doch spätestens im 9. und 10. Jahrhundert, als sich das Christentum in den germanischen Denkhorizont inkulturierte, geriet das platonische Urbild-Abbild-Denken in eine Krise. Dort herrscht ein eher dinglich-materielles Verständnis der Wirklichkeit vor. Hier wird die Frage nach der realen oder zeichenhaften Anwesenheit Christi in der Eucharistie besonders virulent. Deutlich wird das in den sogenannten Abendmahlsstreiten: Dort gibt es einerseits die Realisten, die teilweise sogar eine Totalidentität zwischen historischem und eucharistischem Christus lehren – bis hin zu Formeln wie "Christus, der mit den Zähnen zerkaut wird". Auf der anderen Seite gibt es symbolistische Interpretationen, laut denen die Eucharistie nur ein Erinnerungsritual ist, bei dem der historische Christus nicht wirklich da ist. Doch das kirchliche Lehramt verteidigt die Realpräsenz Christi in der Eucharistie.
Einen weiteren und schließlich wegweisenden Schub in die Debatte bringt die mittelalterliche Scholastik. Hier ist vor allem die Theologie Thomas von Aquins maßgebend. Er beschreitet unter Rückgriff auf die aristotelische Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidenz einen Mittelweg: die Transsubstantiationslehre. In diesem Modell ist Christus zwar wirklich in der Eucharistie anwesend – aber nicht so, dass er "mit den Zähnen zerkaut" wird. Thomas bringt die Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidenz ins Spiel. Doch anders, als der Begriff heutzutage verstanden wird, meint Substanz hier eine mit den Sinnen nicht wahrnehmbare Dimension der Wirklichkeit, während die Akzidenzien die sinnlich wahrnehmbare Ebene der Gestalt bezeichnen, etwa Geruch oder Geschmack. Das heißt, die Gestalten von Brot und Wein bleiben durch den Konsekrationsvorgang unverändert, aber die ontologische Wirklichkeitsdimension, sprich die Substanzebene, wandelt sich. Aus den Substanzen von Brot und Wein werden also die Substanzen des Fleisches und Blutes Jesu. Die reale Gegenwart Christi zeigt sich, wie Thomas sagt, "sub specie sacramenti", also im Modus des Zeichens.
Realpräsenz ist nur im Glauben zugänglich
Mit dieser Unterscheidung kann Thomas einerseits das Anliegen der Realisten wahren, dass Jesus in der Eucharistie wahrhaft gegenwärtig ist; er kann aber andererseits auch das berechtigte Anliegen der Symbolisten aufnehmen, die sozusagen eine "kannibalistische" Deutung ausschließen wollen. Realpräsenz ist für Thomas nicht empirisch wahrnehmbar, sondern nur im Glauben zugänglich. Der Glaube wiederum stützt sich auf die Worte Jesu, die der Priester bei der Wandlung rezitiert. Thomas weist darauf hin, dass alle anderen Sakramente so gespendet werden, dass der Spender in eigenem Namen spricht, etwa "Ich taufe dich" oder "Ich spreche dich los". Nur bei der Eucharistie, wenn der Einsetzungsbericht von der Narration plötzlich in die Rezitation umschlägt, spricht der Priester "in persona Christi".
Die in aristotelischen Kategorien gedeutete Realpräsenz wurde im Laufe der Zeit oft missverstanden. Zudem waren im ausgehenden Mittelalter zahlreiche Einseitigkeiten und abergläubische Praktiken zu beobachten, die den Reformatoren ein Dorn im Auge waren. Für Martin Luther etwa ist die Transsubstantiationslehre eine "spitze Sophisterei". Ihre Fortschreibung im Laufe des Spätmittelalters war ihm zu spekulativ und schriftfremd. Dennoch hielt Luther an der Realpräsenz Christi in Brot und Wein fest – allerdings im Modus der Konsubstantiation. Das heißt, für die Dauer der Abendmahlsfeier tritt zur Substanz von Brot und Wein die Substanz von Leib und Blut Jesu Christi hinzu. Nach der liturgischen Feier endet die Realpräsenz dann wieder. Der Schweizer Reformator Huldrych Zwingli lehnte die Lehre der Realpräsenz ab. Brot und Wein sind für ihn nur Zeichen für die Gegenwart des Herrn, können diese aber nicht wirklich mitteilen. Sie weisen auf eine von ihnen getrennte Wirklichkeit hin – genau wie ein Verkehrszeichen. Für Johannes Calvin wiederum gibt es keine Gegenwart Christi selbst mehr. Vielmehr geschieht nur eine Mitteilung seiner Gaben und seiner Gnade im Genuss des Abendmahls.
Das Konzil von Trient, welches sich mit den Thesen der Reformatoren auseinandersetzte, hatte das Anliegen, die eucharistische Realpräsenz sicherzustellen. Jegliche Abschwächung oder Relativierung sollte abgewehrt werden. Hierbei griff man auf die scholastische Eucharistielehre zurück: Der Begriff Transsubstantiation sei für die Deutung des Wandlungsgeschehens "aptissime", also "sehr geeignet". Ein anderes Erklärungsmodell hatte das Konzil nicht zur Verfügung. Die Reformatoren konnten so nicht überzeugt werden, da sie gerade die Tendenz zur Verdinglichung aufgrund dieser Lehre anklagten.
Im Laufe der Jahrhunderte hat auch der aristotelische Substanzbegriff an Erklärungskraft eingebüßt. Das moderne Denken sieht – spätestens seit der Aufklärung – im Unterschied zum mittelalterlich-statischen Ordo-Denken viel mehr das Prozesshafte, das naturwissenschaftlich Machbare, das Funktionale, Geschichtliche und Personale. Die Wirklichkeit wird vermehrt relational verstanden. Das bedeutet, sie wird erst in Beziehungen, in einem Bezugsrahmen sie selbst. Besonders im 20. Jahrhundert hat man daher neue Formen entwickelt, die Realpräsenz in der Eucharistie zu deuten.
Jesus Christus schenkt seine Gegenwart selbst
Hier greift man vor allem auf die Denkmittel einer Philosophie zurück, die freiheitlich-personal angelegt ist: Jesus Christus schenkt seine Gegenwart selbst, sie ist nicht das Produkt der Erinnerungsleistung der versammelten Gläubigen. Diejenigen, die an dieser Gabe partizipieren, treten ein in seine Gemeinschaft – mit dem Effekt, dass sie die Lebenshaltung Christi in ihrem Leben ebenfalls übernehmen. Die verwandelten Gaben werden somit zur freiheitlichen Gabe der Wandlung des eigenen Lebens. "Das ist der entscheidende Gedanke: Nicht die versammelten Gläubigen sind die, die durch den Akt ihrer Erinnerung etwas zustande bringen, sondern ihrem Bemühen geht die Gabe der Präsenz Christi im Wort des Evangeliums und in der Eucharistiefeier voraus", sagt Jan-Heiner Tück.
Für den Dogmatiker, der unter dem Titel „Gabe der Gegenwart“ eine eucharistietheologische Studie vorgelegt hat, ist klar, dass der elementare Glaube an die Realpräsenz Christi immer wieder mit neuen Kategorien verständlich gemacht werden muss. Es gehe darum, unter veränderten Verständnisbedingungen dasselbe anders zu sagen, ohne das Zentrale preiszugeben. "Da scheinen mir Kategorien wie Gabe, Gegenwart, Wandlung, Gemeinschaft nach wie vor wichtig." Tück warnt aber ausdrücklich davor, die Realpräsenz auf den rein somatischen, also leiblichen Aspekt zu verengen. "Man muss sich verdeutlichen, dass Jesus in der Eucharistie in seiner ganzen Haltung gegenwärtig ist, da die Eucharistie eine Erinnerung an das Letzte Abendmahl ist, bei dem Jesus sein proexistentes Wirken selbst testamentarisch zusammengefasst hat." Wer Eucharistie feiert, tritt also in das Gedenken dessen ein, der für andere da war und ist – in der Bereitschaft, sich in der Begegnung mit ihm selbst verwandeln zu lassen.
Aber nicht zuletzt Umfragen wie die eingangs genannte zeigen, dass es bei vielen Gläubigen eine Kluft zwischen Lehre und Leben gibt. Viele Katholiken verstehen die Eucharistiefeier heutzutage primär als Gemeinschaftsritual. Das sei sie zwar wesentlich auch, "aber sie ist nicht weniger Begegnung mit der verborgenen Gegenwart Jesu Christi, der alles für uns gegeben hat", sagt Tück. Der Glaube an die Realpräsenz Christi ist für den Wiener Theologen die Grundvoraussetzung für den Empfang der Kommunion. Um den Verstehensschwierigkeiten entgegenzutreten, müssten die Multiplikatoren des Glaubens in Katechese und Unterricht wieder deutlicher machen, dass die Kommunion über ein Gemeinschaftsmahl hinaus auch mit dem Mysterium der Gegenwart Christi zu tun habe.
Andererseits dürfe man den Gläubigen nicht die Schuld dafür geben, dass ihnen die Lehre der Realpräsenz nichts mehr sagt. "Den Gläubigen eine bloße Katechismusrepetition abzuverlangen, reicht nicht aus", sagt Tück. Auch die Glaubensvermittlung der Kirche stehe in der Pflicht, die Grundüberzeugung der verborgenen Gegenwart Christi immer wieder so zu erschließen, dass sie im Verstehenshorizont der Gläubigen auch ankommen kann.