Andreas Püttmann zu Weihnachten 2016

Menschwerden gegen die Selbstzerstörung

Veröffentlicht am 19.12.2016 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Standpunkt

Bonn ‐ Andreas Püttmann zu Weihnachten 2016

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In der vom jüngst verstorbenen Karl-Dietrich Bracher begründeten "Bonner Schule" der Politikwissenschaft lernten wir Marxismus-Leninismus, Faschismus und Nationalsozialismus auch als "politische Religionen" verstehen. Ideologische Gesellschaftsentwürfe, legitimiert durch eine hybride (linke) Universal- oder (rechte) Partikularmoral von Volk, Nation oder Rasse, verlangten vom Einzelnen unbedingte Ein- und Unterordnung und griffen dann aggressiv "missionarisch" aus: Europa versank in Krieg, Gewaltherrschaft und unermesslichem Leid. Als Lehre daraus mahnte der Vater des "kritischen Rationalismus", Karl-Raimund Popper: "Der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, erzeugt stets die Hölle"; er führe "zu Intoleranz, zu religiösen Kriegen und zur Rettung der Seelen durch die Inquisition"; "Dennoch können und sollen wir Weltverbesserer bleiben – aber bescheidene Weltverbesserer."

Die totalitäre Versuchung der Selbstüberhöhung, Selbstermächtigung und Selbsterlösung des Menschen bestätigte für mich als Student die biblische Erzählung von der Ursünde: sein zu wollen wie Gott. Quasi die Umkehrung von Weihnachten, wo Gott Mensch wurde – nicht um zu herrschen, sondern um zu dienen und niemanden für die Erlösung zu "opfern" als schließlich sich selbst. Der radikalste Gegenentwurf zur Unheilsgeschichte der Menschheit, diese Heilsgeschichte in zwei Teilen, in der Krippe und am Kreuz.

Heute wäre ich schon froh, wenn der Mensch wenigstens Mensch bleiben oder wieder Mensch werden wollte. So dünn hat sich die Decke der Zivilisation in meiner Lebenszeit noch nie angefühlt. Man braucht dafür gar nicht auf die IS-Terrororgien, Putins und Assads gewissenlos brutale Kriegsführung, Trumps Verhetzungs- und Lügenexzesse oder Dutertes präsidiale Lynchaufrufe und Mordprahlereien zu schauen. Manche Dialogversuche bei Twitter oder Facebook reichen aus, um sich Roland Freislers Diskussionsstil gegenüber "Volksverrätern" zu vergegenwärtigen: verdrehend, zynisch, hämisch, einschüchternd, rasend. "Diskursethik" war einmal. Die radikalisierenden "Echoräume" des Internets haben niedrigste menschliche Impulse entfesselt – bis in manche Nischen des Internetkatholizismus hinein, in denen hemmungslos manipuliert und verleumdet wird.

Da möchte man sich manchmal einfach nur verkriechen, aus der Öffentlichkeit ins Private zurückziehen und hoffen, dass die sich aufweichenden kulturellen Dämme gegen die Selbstzerstörung noch eine Weile halten. Letzteres wird aber nur der Fall sein, wenn genug gute und klarsichtige Menschen gerade nicht mit "innerer Emigration" auf das Platzgreifen von Bosheit und Dummheit reagieren. Wenn den Millionen in den Gottesdiensten um die Jahreswende zum Beispiel die Bitte: "Und bewahre uns vor Verwirrung und Sünde" in beiden Teilen realitätsnah ausgedeutet wird. Und wenn viele Christen hinausgehen als – im Doppelsinn – wandelnde Einladung: "Mach's wie Gott, werde Mensch!"

Von Andreas Püttmann

Der Autor

Andreas Püttmann lebt als Journalist und Publizist in Bonn.

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt nicht unbedingt die Meinung der Redaktion von katholisch.de wider.