"So versetzt man die Mittelschicht in Panik"
Der Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, Georg Cremer, warnt vor immer neuen Superlativen in der Armutsdebatte. Damit "versetzt man die Mittelschicht in Panik", sagte er der "Welt am Sonntag". "Und das ist politisch kontraproduktiv." Das oft beschworene Bild von der wegbrechenden Mitte entspreche nicht den Fakten, betonte der Ökonom.
Deutschland "stabil und relativ gut regiert"
"Untergangsrhetorik oder gar Sozialpopulismus" verfestigten den Eindruck, die Politik kümmere sich nicht um die Probleme der Bürger. Tatsächlich sei Deutschland aber ein stabiles, relativ gut regiertes Land.
Die Schere zwischen Arm und Reich sei zwar zwischen 1998 und 2005 stärker auseinandergegangen, seit zehn Jahren aber nicht mehr. Die Armutsstatistik erfasse zudem auch viele Auszubildende und Studenten als Einkommensarme, die "zwar momentan wenig Geld, aber nicht wirklich ein Problem" hätten, sagte der Experte. Es gebe "große soziale Probleme" in Deutschland; diese sollte man jedoch nüchtern angehen.
"Die Verunsicherung der Mitte ist ein Nährboden für populistische Parteien", warnte Cremer. Eine "postfaktische Gesellschaft" untergrabe die Handlungsspielräume für eine wirksame Reformpolitik. Eine "Abkoppelung der Debatte von Fakten macht mir Angst", so der Caritas-Generalsekretär.
Eine seriöse sozialpolitische Debatte müsse anerkennen, dass Politiker die Realität nicht dauerhaft ignorieren könnten. "Sie haben die Rentenreformen beispielsweise nicht gemacht, um Bürger zu quälen, sondern um die Kosten einer alternden Gesellschaft für die Rentenversicherung in den Griff zu bekommen." Auch Medien und Sozialverbände müssten sich dem stellen und dürften die Realität nicht ausblenden.
Die von Gewerkschaften und Sozialverbänden erhobene Forderung nach einem höheren Rentenniveau helfe gerade nicht den bedürftigen Rentnern, da bei ihnen eine höhere Rente mit der Grundsicherung verrechnet würde, sagte er. "Wir reden über die Bekämpfung der Altersarmut und sprechen dabei von Maßnahmen, die die Armen gar nicht erreichen."
Haltelinie bei 46 Prozent?
Das Rentenniveau gibt das Verhältnis der Rente zum Durchschnittslohn an. Befürchtet wird, dass es ohne Reform von derzeit 48 Prozent bis 2045 auf 41,7 Prozent sinkt. Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) will eine Haltelinie bei 46 Prozent erreichen. Dem DGB und vor allem der Linkspartei reicht das nicht. (gho/dpa/KNA)