Die Mutter aller Krippen
Bis es richtig losgeht, sind Ochs und Esel die Hauptfiguren. Ihnen fliegt alle Aufmerksamkeit zu, als Sandro Cascioli, der Bauer aus dem Tal, sie in den Unterstand führt, in dem gleich das Jesuskind zur Welt kommen wird. So macht er es seit 40 Jahren. Früher eine knappe Stunde zu Fuß, die Tiere am Strick, durch Regen und Schnee der Heiligen Nacht, inzwischen mit dem Viehtransporter. "Wie heißen die denn?", fragt jemand. Cascioli hebt die Achseln: "Ich hab' sie nicht getauft."
Der heilige Franziskus bildete die Geburtsgrotte nach
Greccio, die Mutter aller Weihnachtskrippen: Bettelbruder Franziskus kam 1223 auf die Idee, hier die Geburtsgrotte von Bethlehem nachzubilden. Gemeinsam mit den einfachen Leuten dieser Gegend, roh und wild wie die Landschaft am Monte Lacerone, wollte der Heilige aus Assisi, wie sein Biograf berichtet, "wenigstens ein einziges Mal mit eigenen Augen die Geburt des göttlichen Kindes sehen".
750 Jahre später fassten die Leute im Dorf den Entschluss, dieses Ereignis abermals zu verlebendigen. Aus dem Jubiläumsspiel 1973 entwickelte sich ein Dauerbrenner. Die Laiendarsteller gastierten im In- und Ausland, in Brüssel, Madrid, ja selbst in Bethlehem. "Mehr kann man sich nicht wünschen", sagt Federico Giovannelli: "Dass ein kleines Dorf sein Schauspiel an den Ort bringt, wo Jesus geboren wurde."
Giovannelli wirkte schon als Sechsjähriger mit, wuchs durch die verschiedenen Komparsen- und Nebenrollen hindurch. Inzwischen ist er 43, Familienvater und Franziskus-Darsteller. Ein Leben mit der Krippe, wie bei vielen in dem 1.500-Seelen-Ort. Wenn Greccio alljährlich ab Ende Oktober auf die Aufführungen zwischen Heiligabend und Dreikönig zusteuert, ist "in jeder Familie wenigstens einer" engagiert, vor oder hinter den Kulissen.
Am Einlass verkaufen Landfrauen Frittelle, fettgebackene Küchlein, wahlweise mit Zucker bestreut oder einer Prise Salz. Die schlichte Köstlichkeit bäuerlicher Feste führt unmerklich hinüber in die gespielte Welt des Mittelalters, wo vor Beginn der Darbietung buntgekleidete Mädchen im Publikum Walnüsse feilhalten, ein Bettler um einen Apfel heischt und Mägde sich am Feuer des Schmieds wärmen.
Zuschauer reisen extra aus Rom an
Von Viterbo und Rom sind die Zuschauer angereist, ein ganzer Bus aus der Nähe von Perugia, zwei Stunden weit. Die meisten nehmen die abendliche Inszenierung zum Anlass für einen Tagesausflug. Und so ergießt sich zu den Terminen des Krippenspiels eine erkleckliche Besuchermenge in das Dorf Greccio mit seinem winzigen Weihnachtsmarkt auf der einzigen Piazza und in das Franziskus-Heiligtum im Felshang oberhalb der Freilichtbühne.
Auf 15.000 schätzt dort Pater Luciano De Giusti die Zahl der Gäste über Weihnachten. Zum Feiern bleibt für ihn und seine drei Mitbrüder wenig Zeit: Sie halten Messen, hören Beichte, vor allem aber stehen sie für Führungen und Auskünfte bereit. Die Klientel ist eine andere als übers Jahr: Statt pilgernder Pfarreigruppen sind es jetzt oft Familien, die wegen des Schauspiels kommen, mit Kirche aber nicht unbedingt viel am Hut haben.
Unsere Vorbilder: Franz von Assisi
Kaum ein Heiliger hat eine solche Anerkennung gefunden wie Franz von Assisi. Er folgte Jesus Christus bedingungslos nach - und hatte ein besonderes Verhältnis zur Schöpfung.Manche ahnen nicht, an welchem kunst- und religionsgeschichtlichen Kleinod sie sich vor der Aufführung die Füße vertreten: Mönchszellen aus dem 13. Jahrhundert, in die Felswand gebaut, die älteste Franziskuskirche - und eben jene Grotte, in der die Weihnachtsszene erstmals ihre volkstümliche Gestalt annahm, heute eine Kapelle mit einem soeben restaurierten wunderbaren Fresko des Meisters von Narni um die Wende zum 15. Jahrhundert. Eine Besucherin bringt arglos ihren Hund herein, Pater Luciano muss sie freundlich hinausbitten.
Das Heiligtum oben, das Schauspiel unten: eigene Welten. Die sechs kurzen Szenen orientieren sich an den historischen Quellen, allen voran Thomas von Celano; sie entstanden seinerzeit mit Beratung der Franziskaner. Pater Luciano macht deutlich, dass sein Orden mit der Inszenierung nichts zu tun hat: "Es ist eine eigene Interpretation", sagt er, und: "Franziskus gehört allen."
Eine Prophezeiung wird wahr
So ist es ihr eigener Franziskus, den die Bürger auf die Bühne stellen: der Heilige, der ihr Dorf erwählte, weil es "reich an Armut" war, wie Franziskus-Darsteller Giovannelli sagt; der ins ferne Heilige Land zog, um ausgerechnet ihnen das Weihnachtswunder mitzubringen.
Und sie schreiben die Geschichte fort: Zum Finale, als alles Volk andächtig vor der Krippe kniet und Ochs und Esel in die Scheinwerfer blinzeln, spricht Kardinal Ugolino die Prophezeiung: Einst werde ein Franziskus auf den Papstthron steigen, um mit dem "Schwert der Armut" die Kirche zu erneuern. Da hebt Beifall an, das Spiel ist aus, und wer er nicht eilig hat, zum Parkplatz zu kommen, stellt sich zu den Hirten ans wärmende Feuer.