Wo "Christ" zum Schimpfwort wird
Am Montag begann der jüdische Monat Adar, der in talmudischer Tradition im Zeichen von Fröhlichkeit und Glück steht. Das traditionelle Gebet zum Monatsanfang, zu dem die Frauenrechtsbewegung "Frauen der Klagemauer" ("Women of the wall", WOW) nach Jerusalem einlud, stand unterdessen im Zeichen von Konfrontation. Dutzende strengreligiöse Juden versuchten, die Aktivistinnen am Gebet zu hindern - im Namen Gottes. Denn die Gleichberechtigung, die WOW an der heiligsten Stätte des Judentums fordert, entspricht nicht ihrer strengen Glaubensauslegung.
Tränen laufen über das Gesicht einer jungen orthodoxen Jüdin. Sie ist keine von denen, die hinter den Anliegen von WOW steht, sagt sie. Aber die Szene tut ihr "im Herzen weh: Dies ist ein heiliger Ort, und wer bin ich, jemandem das Gebet nach seinem Glauben hier zu verbieten? Das ist krank!" Wie die junge Frau denken viele, die zum Gebet an die Klagemauer gekommen sind, die meisten von ihnen in religiös-jüdischer Kleidung. "So kann man doch nicht beten", schreien sie gegen die Demonstrantinnen an.
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Frauen und Männern sollen künftig gemeinsam an der Klagemauer beten können. Doch die Einrichtung des zugesagten Gebetsabschnitts verzögert sich. Dagegen gab es nun Proteste - und Provokationen. (artikel von November 2016)Doch die Minderheit ist lauter. Mit Trillerpfeifen versuchen sie auf der Frauenseite unaufhörlich, das Gebet der Frauen im Gebetsschal zu übertönen. Gegen das orthodoxe Gebet, das von der Männerseite aus dem Lautsprecher tönt, haben weder die Aktvistinnen noch die Gegendemonstrantinnen akustisch eine Chance. Auch an den Zugängen zum Frauenbereich schreien sich Strenggläubige heiser. "Gewalt!", "Dieser Platz gehört uns", "Ungläubige", "Christen": Je jünger die Demonstranten, desto wüster der Ton. Die jüngsten von ihnen sind Kinder, acht Jahre vielleicht oder neun. Die Aggression ist spürbar, das Sicherheitsaufgebot hoch.
Metallene Absperrungen trennen Aktivistinnen und Gegendemonstranten; ein neutraler Korridor schafft Sicherheitsabstand. Männliche Sympathisanten bilden einen zusätzlichen Puffer zwischen beiden Gruppen. "Im 21. Jahrhundert sollten Frauen gleiche Rechte haben", sagt Yair Zafrani, der aus Solidarität mit den WOW gekommen ist. "Die Klagemauer gehört allen - aber gegenwärtig ist sie fest in ultraorthodxer Hand."
Eigentlich hatte die israelische Regierung schon im Januar 2016 eine Kompromisslösung im Streit zwischen den strengreligiösen und reformorientierten Gruppen gefunden: Ein dritter, egalitärer Gebetbereich sollte geschaffen werden. Für Yair Zafrani "nicht die ideale Lösung, aber wenigstens die Anerkennung, um die wir kämpfen". "Die Lösung ist akzeptabel", sagt auch Unterstützer Tzvi Kahn, "- wenn die Regierung sie nur umsetzen würde." Stattdessen werde die Situation "immer schlimmer". Die Regierung verzögert seit Monaten die Umsetzung der beschlossenen Kompromisslösung; "aus Angst vor ultraorthodoxem Druck", meinen die Frauen der Klagemauer. Inzwischen haben sie ein zeitweilig eingefrorenes Verfahren vor dem Obersten Gericht wieder aufgenommen.
Vor Ort an der Klagemauer kämpft man unterdessen Monat für Monat mit härteren Bandagen. Jede nichtorthodoxe Form des Gebets solle verboten werden, forderte zuletzt der zuständige Rabbiner, Schmuel Rabinowitz. Strengreligiöse Organisationen rufen verstärkt zu Protest gegen die Aktvistinnen auf. Wieviele Sicherheitskräfte an diesem Montag im Einsatz sind und wie groß die Gruppe der Demonstranten ist, will die Polizei nicht sagen.
Die Zahl der Frauen, die sich zum reformjüdischen Gebet versammelt haben, schätzt WOW-Direktorin Lesley Sachs auf 100. Bis an die Klagemauer selbst dürfen sie nicht; eine Polizeiabsperrung trennt sie von den letzten Metern. Der Weg in den streng abgezäunten Bereich gleicht, dem hohen Sicherheitsaufgebot zum Trotz, einem Spießrutenlauf, in dem manch eine zu Boden geht. Tränen fließen auch auf dieser Seite der Absperrung. "Ein schwieriger Tag für uns", sagt Lesley Sachs, auch wenn "die Sicherheit überraschend gut funktioniert".