Anpacken in der Karwoche
Als am vergangenen Samstagabend der Himmel über Valparaiso von dichten Rauchwolken verdunkelt wurde, hatte wohl noch niemand damit gerechnet, dass wenige Stunden später mehrere der für die Stadt charakteristischen und bunten Hügel (spanisch: "cerros") in Flammen stehen würden. Über 11.000 Menschen verloren im verheerenden Brand ihr Zuhause und alles, was sie besaßen. Die Feuerwalze überfiel die zumeist armen Familien am Rande von Valparaiso derart schnell und überraschend, dass vielen nichts außer den Kleidern blieb, die sie am Leibe trugen. Es sollte der schlimmste Brand werden, den die malerische Hafenstadt je gesehen haben würde.
Helfer mit Schaufel und Smartphone
Jorge geht noch zur Schule. Er ist 17 Jahre alt und hat keine Sekunde gezögert, als am Montag der Unterricht ausfiel und er und seine Klassenkameraden zur Mithilfe im Katastrophengebiet aufgerufen wurden. Und er ist nicht der Einzige: Aus allen Vierteln, umliegenden Städten und Regionen, aus Schulen und Universitäten ziehen Tausende junge Menschen die verbrannten Hügel hinauf, ausgestattet mit Schaufeln, Atemschutzmasken und Smartphones. Auf Facebook und Twitter haben sie sich verabredet und befreien nun unermüdlich die Grundstücke von Schutt und Müll. Weitere Studierende sowie Helfer kirchlicher und politischer Einrichtungen versorgen sie mit Wasser und Sandwiches, wiederum andere verteilen Sachspenden, die im ganzen Land für die Menschen von Valparaiso zusammengetragen wurden.
Sie bilden lange Ketten, die die staubigen und steilen Hänge miteinander verbinden, und entfernen alles, was an die Geschehnisse vom Wochenende erinnert. Bis dahin wurden sie der Generation "No estoy ni ahi" ("ist mir doch alles total egal") zugerechnet, eine Generation, die sich weder für Politik noch für gesellschaftspolitische Aufgaben interessiere und daher lediglich durch die anhaltenden Studierendenproteste in Chile seit 2011 aufgefallen war.
Demonstrationen gegen jene Universitäten, die lediglich nach Prinzipien der Gewinnmaximierung funktionieren, etabliert und zementiert durch die bis 1990 anhaltende Militärdiktatur, gegen die überall gleichsam hohen Studiengebühren und die dennoch schlechte Ausstattung in Lehre und Forschung. Sie hatten jedoch bislang wenig positives Echo in der Tagespolitik erhalten. Michelle Bachelet, die erst im März 2014 im Amt als chilenische Staatspräsidentin vereidigt worden war, hatte zwar das Thema Bildungspolitik auf ihre Agenda gesetzt und zum ersten wichtigen Schritt für ihre Amtszeit erklärt, doch die geringe Wahlbeteiligung eben jener Generation der Unter-30-Jährigen ließ viele konservative Medien vermuten, dass diesen die Luft für Proteste ausgegangen sei.
"Helfen ist doch selbstverständlich"
Doch die Ereignisse von Valparaíso scheinen das Gegenteil zu zeigen: Jorge und seine Freunde stehen auch am dritten Tage nach der Katastrophe in der prallen Sonne und befreien ein Grundstück in einer kleinen Schlucht von dem, was das Feuer übrig gelassen hat. Sie lachen und singen die neuesten Hits aus den Charts, um sich zu motivieren. "Es ist doch selbstverständlich hier helfen. Die Menschen haben alles verloren und ich finde es wichtig, dass alle mitmachen", sagt Jorge und seine Schulkameraden nicken zustimmend, während sie sich bunte Erdbeerlollis in den Mund stecken, die ihnen gerade jemand als Stärkung vorbeigebracht hat.
Auf Twitter tragen die jungen Freiwilligen unter dem Hashtag #LaRevolucionDeLasPalas ("Revolution der Schaufeln") Kurznachrichten und Bilder zusammen, die sie von sich bei der Arbeit gemacht haben. Sie "liken" ihre Beiträge gegenseitig, feuern sich an und machen vor allen Dingen eines deutlich: Dass es ihnen um ihr Land geht, um ihre Umgebung und ihre Gesellschaft – eine Gesellschaft, an der die teilhaben möchten ohne bevormundet zu werden.
"Ein neues Verständnis von Nächstenliebe"
Auch Catalina Gatica Araus, leitende Direktorin der Kulturinstitution "Parque Cultural de Valparaiso" auf dem Gelände eines ehemaligen Gefängnisses, ist überwältigt von der Solidarität der Studierenden, die dort in Tages- und Nachtschichten Spenden in Empfang nehmen, sortieren und auf LKWs laden: "Am Montag standen plötzlich 500 junge Menschen vor unserer Tür, um sich als Freiwillige zu registrieren, am Dienstag waren es 750." Sie teilt den Eindruck, dass es sich bei diesen jungen Männern und Frauen um eine neue Generation handelt: "Diejenigen, die unter 20 Jahre alt sind, legen ein ganz neues Verständnis von Solidarität und Nächstenliebe an den Tag, das nicht mehr von den Nachwehen der Militärdiktatur beeinflusst ist", so Gatica. "Geschlechtergerechtigkeit, neue Kommunikationsformen und ein hohes Maß an Eigenorganisation sind ihre Werte, von denen nun Valparaiso und das ganze Land profitieren können."
Als die Gruppe um Jorge am späten Nachmittag mit der Säuberung des Grundstückes auf dem Cerro Las Canas fertig ist, ziehen sie direkt weiter und suchen einen neuen Ort, an dem sie helfen können. Die ganze Karwoche lang sollte auf dem Stadtgebiet die Schule ausfallen, damit Valparaiso mithilfe seiner jungen Bewohner so schnell wie möglich zur Normalität zurückfindet. Die Ostertage, so sind sich Jorge und seine Freunde einig, werden sie wieder die Hügel hinaufziehen und ihrem Land mit Schaufeln beweisen, dass es sie braucht. Sowohl heute als auch morgen.
Von Anna Grebe und Jose Pedro Cornejo Santibanez