Vaterunser: Führt Gott Menschen in die Versuchung?
Führt Gott Menschen in die Versuchung? Aus einer neuen Übersetzung der sechsten Vaterunser-Bitte, die im französischen Sprachraum eingeführt wird, entspann sich eine lebhafte theologische Diskussion darüber. Statt dem bisher üblichen "führe uns nicht in Versuchung" beten die Französischsprecher künftig "ne nous laisse pas entrer en tentation", "lass uns nicht in die Versuchung eintreten". Im deutschen Sprachraum gibt es wenige Fürsprecher für eine entsprechende Übersetzung: Die neue Einheitsübersetzung hat an dieser Stelle keine Veränderung vorgenommen.
Prominente Kirchenleute haben sich gegen eine Neuübersetzung ausgesprochen, darunter der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer, der Jesuit Klaus Mertes und der Bochumer Neutestamentler Thomas Söding; der Bischof sah eine "Verdunkelung des Gottesbildes", der Pater hält ein Gottesbild hoch, in dem Gott auch die Anklagen der Gläubigen aushält. Der Professor weist darauf hin, dass Gott zwar nicht versucht, die Bitte aber das Gottvertrauen des Beters ausdrückt: "Die Bitte will nicht Gott zu etwas treiben, was er nicht ohnedies machte und wollte. Sie will vielmehr Gottes Willen und Gottes Barmherzigkeit erkennen", sagte er gegenüber der Münsteraner Kirchenzeitung "Kirche und Leben".
Zuletzt hatten sich auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und der Chef der Liturgiekommission, der Trierer Bischof Stephan Ackermann, ablehnend geäußert. Marx betonte am Freitag vor Journalisten in München, eine Neuübersetzung sei nicht notwendig und der Papst habe mit seiner Kritik "keine Handlungsanweisung gegeben". Stattdessen solle man den Text besser interpretieren. Auch Ackermann plädierte dafür, die wortgetreue deutsche Übersetzung beizubehalten, obwohl er die Kritik des Papstes nachvollziehen könne. Zudem sagte er: "Ich sehe auch nicht, dass wir in Deutschland bisher eine andere Meinungsbildung unter den Bischöfen hätten."
Der Papst wünscht sich eine Änderung
In der Theologie ist der Wunsch nach einer Neuübersetzung eine Minderheitenposition, hat die Debatte gezeigt. Doch einen besonders prominenten Fürsprecher hat sie. Führt Gott Menschen in die Versuchung? Papst Franziskus ist sich sicher: Nein! Der Versucher ist der Satan, nie Gott, sagte er in einem italienischen Fernsehinterview: "Ein Vater tut so etwas nicht. Wer dich in Versuchung führt, ist der Satan!" Auf seiner Seite hat der Papst den Jakobusbrief: "Keiner, der in Versuchung gerät, soll sagen: Ich werde von Gott in Versuchung geführt", heißt es dort gleich im ersten Kapitel. "Denn Gott lässt sich nicht zum Bösen versuchen, er führt aber auch selbst niemanden in Versuchung."
Nicht auf seiner Seite hat Papst Franziskus neben der bisher üblichen Übersetzung des Vaterunsers anscheinend auch das Alte Testament, wo immer wieder von Versuchungen durch Gott die Rede ist, beginnend mit dem Buch Genesis: "Gott versuchte Abraham", übersetzt die Luther-Bibel. In der Einheitsübersetzung steht an dieser Stelle nichts von einer "Versuchung". Gott stellt Abraham stattdessen auf die Probe – und diesen Unterschied zwischen "versuchen" und "auf die Probe stellen" betont auch die Exegese, um die Vaterunser-Bitte mit dem Bild eines liebenden Vaters zu versöhnen. Diesen Aspekt betonte auch Liturgie-Bischof Ackermann: "Ich glaube, hier geht es darum, dass der Betende nicht aus der Haltung des Selbstbewussten, des Unangefochtenen spricht, sondern um seine Versuchbarkeit weiß."
Erprobung als Mittel göttlicher Erziehung
Der Münchener Neutestamentler Gerd Häfner betrachtet in einem Beitrag zu der Kontroverse besonders die Bedeutung der "Versuchung" in der Vaterunser-Bitte. Er weist darauf hin, dass das im griechischen Urtext verwendeten Wort ein breites Bedeutungsspektrum abdecke, wobei die grundlegende Bedeutung relativ neutral "probieren, erproben, einer Prüfung unterziehen" sei. Eine "übelwollende Absicht" klinge darin nicht notwendig an. Die alttestamentlich-jüdische Tradition kenne "die Erprobung als Mittel göttlicher Erziehung".
Häfner gehört zu den Theologen, die sich klar für die hergebrachte Übersetzung aussprechen. Doch das Unbehagen an dem Vater, dem zugetraut wird, er könne in Versuchung führen, ist nicht neu. Schon früh in der Kirchengeschichte gibt es Autoren, die mit dieser Stelle ihre Probleme haben. In seinem Kommentar zum Matthäus-Evangelium führt der Schweizer Neutestamentler Ulrich Luz etwa die Kirchenväter Tertullian, Cyprian und Origines unter den Autoren an, die "viel Tiefsinn" darauf verwendet haben, "wie man die Aussage, daß Gott es sei, der in Versuchung führt" zu verstehen habe. Im 20. Jahrhundert schlug der Münchener Neutestamentler Joachim Gnilka als Übersetzung "lass uns nicht in Versuchung geraten" vor, ähnlich wie der jüdische Religionsphilosoph Pinchas Lapide.
Drei Positionen zum Übersetzungsstreit
Kardinal Walter Kasper wies im Rahmen der aktuellen Debatte in einem Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung darauf hin, dass diese Übersetzung auch vom damaligen Kardinal Joseph Ratzinger für die im Katechismus der Katholischen Kirche verwendete Fassung des Vaterunser ins Spiel gebracht wurde.
Was die Aussageabsicht der Vaterunser-Bitte angeht, sind die unterschiedlichen Positionen nicht so weit auseinander, wie die Heftigkeit der Debatte es scheinen lässt. Umstritten ist vor allem die Frage, wie die Bitte korrekt zu übersetzen sei: Ist sie nur in der hergebrachten Variante ("führe uns nicht in Versuchung") möglich, sollte man sie besser ändern, damit sie verständlicher wird, oder können beide Varianten nebeneinander stehen?
Kein Rückgriff auf hypothetische Originale
Thomas Söding, der auch an der neuen Fassung der Einheitsübersetzung mitgearbeitet hat, gehört zu den Wissenschaftlern, die ausschließlich die hergebrachte Variante gelten lassen, auch aus Gründen der Ökumene: "Seit Martin Luther ist die deutsche Übersetzung des Vaterunser ein und dieselbe. Sie ist präzise, und sie ist tief. Falsch ist nur die Behauptung, die Übersetzung sei falsch", sagte er gegenüber dem Kölner Stadtanzeiger. Zwar könne es grundsätzlich sein, dass sich eine in der Liturgie verwendete Formulierung von der sprachwissenschaftlich exakten Übersetzung unterscheidet, in diesem Fall, wo es um Jesusworte geht, sei das aber nicht angebracht. Die gegenwärtig verwendete Übersetzung gehe auf den überlieferten griechischen Text zurück und entspreche diesem auch. Verweise auf ein angebliches "Original" in Jesu Sprache aramäisch seien nicht zulässig – denn überliefert ist das Vaterunser in dieser Sprache nicht. Und auch der griechische Urtext kann sich auf eine hohe Autorität berufen: "Viele überlieferte Jesusworte darin sind so alt, wie sie nur alt sein können: Sie gehen zurück auf den Umkreis der ersten Jünger." Diese Linie vertreten auch der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück und die Salzburger Bibelwissenschaftlerin Marlies Gielen gegenüber der österreichischen Nachrichtenagentur kathpress. Ein aramäischer "O-Ton" liege nicht vor und der griechische Text sei eindeutig korrekt übersetzt.
Änderungen aus pastoralen Gründen
Die Gegenposition, wie sie auch der Papst deutlich gemacht hat, argumentiert vor allem pastoral: Die alte Formulierung führe in die Irre, sei heute nicht mehr verständlich. Besonders pointiert hat das der Heidelberger Neutestamentler Klaus Berger in der "Tagespost" vertreten. Er hält es für "naiv", davon auszugehen, dass eine wörtliche Übersetzung das vermitteln würde, was Jesus eigentlich gemeint habe. Man müsse immer mit einbeziehen, wie solche Übersetzungen heute gelesen und verstanden werden: "Alles Pochen auf eine wörtliche Übersetzung hilft gar nichts, wenn normale Menschen daraus die falschen Schlüsse ziehen."
Beide Varianten sind möglich
Neben den beiden Extremen gibt es noch die mittlere Position. Der Fribourger Alttestamentler Adrian Schenker kommt für das Schweizer Liturgische Institut zu einem salomonischen Schluss: "Eine sorgfältige Analyse zeigt: Beide Übersetzungen sind möglich und theologisch legitim." Der Dominikaner, ebenso wie Söding an der neuen Einheitsübersetzung beteiligt, verweist auf den von seinem Bochumer Kollegen geschmähten Ansatz eines hypothetischen Originals. Ins Hebräische oder Aramäische übertragen wäre die Bitte auf jeden Fall in beiden Varianten übersetzbar. "In diesen beiden Sprachen hiess die Bitte in ganz wörtlicher Übertragung entweder: 'lass uns nicht in Versuchung kommen' oder: 'mach, dass wir nicht in Versuchung kommen'." Die zwei Lesarten korrespondierten laut Schenker auch mit einer theologischen Aussage: "Gott versucht, und der Böse versucht, aber sie tun es in entgegengesetzter Absicht." Während Gott den Menschen auf die Probe stellt, "um ihm Gelegenheit zum Wachsen zu geben", tue es der Satan, "um den Menschen zu Fall zu bringen".
Auch wenn der Papst in seinem Interview der Neuübersetzung zuneigt, während im deutschen Sprachraum kaum jemand so recht eine Änderung will: Die vermittelnde Position ist weltkirchlich schon Stand der Dinge: Neben den Varianten, die das Lateinische und Griechische wörtlich übersetzen, sind auch andere Fassungen im Gebrauch. Die französische Variante ist bereits seit 2013 von den zuständigen Stellen im Vatikan für die Verwendung im Gottesdienst zugelassen, im Spanischen lautet die Bitte ebenfalls "no nos dejes caer en la tentación" ("lass uns nicht in Versuchung fallen").