Theologen, Ihr kennt Euren Thomas von Aquin nicht mehr!
Thomas von Aquin, dessen Gedenktag wir heute begehen, ist wohl der berühmteste Philosoph unter den Kirchenlehrern. Seit ihn Papst Franziskus' in seinem Schreiben "Amoris laetitia" als wichtigsten Gewährsmann dafür anführte, den Sakramentenempfang wiederverheirateter Geschiedener in differenzierter Weise zu gestalten, steht seine Lehre wieder voll im Fokus der kirchlichen Öffentlichkeit.
An zentraler Stelle zitiert der Papst Thomas' differenzierende Feststellung: "Im Bereich des Handelns […] liegt hinsichtlich des Spezifischen nicht für alle dieselbe praktische Wahrheit oder Richtigkeit vor." Diese Ansicht des Aquinaten, dass jeder Einzelfall Besonderheiten aufweist, die bei seiner sittlichen Bewertung berücksichtigt werden müssen, führt auf den pastoralen Kern des päpstlichen Schreibens, nämlich die vieldiskutierte Überlegung: "In gewissen Fällen könnte" die pastorale Unterstützung der Kirche für wiederverheiratete Geschiedene "auch die Hilfe der Sakramente sein". Der Kirchenlehrer Thomas wird hier also nicht, wie vielfach im Neuthomismus, der bis in die 1960er Jahre die katholische Theologie dominierte und einengte, als Gralshüter einer unverbrüchlich-statischen Glaubenslehre zitiert. Er tritt uns als christlicher Denker entgegen, welcher der Vielfalt des menschlichen Lebens und dem Wert persönlicher Gewissensurteile breiten Raum einräumt – breiteren vielleicht, als die meisten Philosophen vor und nach seiner Zeit.
Theologie-Studenten lernen mehr über Nietzsche als über Kirchenlehrer
Viele Mediävisten wird diese Feststellung nicht überraschen – nicht wenige katholische Theologen im deutschsprachigen Raum womöglich schon, dürften sie doch in ihren Studien wenig mit dem Aquinaten zu tun bekommen haben. Bereits als ich in den 1990ern Theologie studierte, kam Thomas, ebenso wie andere Kirchenlehrer der Antike und des Mittelalters, allenfalls kursorisch vor und verschwand hinter recht schematischen Auseinandersetzungen mit moderner Religionskritik. Man hörte mehr über Nietzsche, Kant und Feuerbach als über die großen Denker des Christentums. Seitdem hat sich wohl nicht viel geändert: Erst kürzlich bedauerte ein junger Jesuit mir gegenüber, in seinem Studium niemals in den heiligen Thomas eingeführt worden zu sein. Das ist wohl kaum ein Einzelfall: An vielen deutschsprachigen katholisch-theologischen Fakultäten arbeiten gar keine Spezialisten mehr für das Denken des Mittelalters; Forschungszentren hierzu gibt es praktisch nur noch in der Philosophie, deren Beschäftigung mit dem Mittelalter im Umfeld der Theologie aber ebenfalls seltener wird. Meine eigenen Vorträge an katholischen Institutionen förderten erschreckende Mischungen von Ablehnung und Desinteresse an den christlichen Denkern des Mittelalters zutage. Reaktionen von Professorenkollegen reichten von der Frage "Warum muss man darüber heute noch so lange reden?" (gemeint waren 30 Minuten!) bis hin zu der in harschem Ton vorgetragenen Aufforderung eines älteren Kollegen: "Sie müssen auch mal den Unterschied von Moderne und Vormoderne betonen."
Diese Bemerkung führt auf den Kern des Problems: In der Optik vieler Theologen scheint die Bedeutung eines Denkers eher von Kriterien wie "Aktualität" und "Modernität" abzuhängen als von der Qualität, Differenziertheit und sachlichen Berechtigung ihrer Aussagen. Schon die Tatsache, dass Thomas im Mittelalter geschrieben hat, genügt, um ihn nicht ernsthaft zu studieren und zu thematisieren – was übrigens heute bei nicht wenigen Philosophen, die Thomas durchaus als Klassiker sehen, durchaus anders ist; bei atheistischen Studierenden in Jena habe ich mehr Interesse an ihm gefunden als unter katholischen Theologen.
Es ist höchste Zeit für eine Wiederentdeckung des Thomas von Aquin
Diese Nonchalance gegenüber der eigenen Ideengeschichte wirft besorgniserregende Fragen auf: Kann eine Wissenschaft darauf verzichten, von ihren eigenen Klassikern zu lernen? Wie soll ohne sie auf Augenhöhe argumentiert werden, sei es in der Weltkirche, in der in der modernen Gesellschaft? Welche universitären Nachbarfächer werden an einer Theologie interessiert sein, von der man nicht einmal deren eigene Denktradition lernen kann?
Solche Appelle werden gerne mit Hinweis auf überholte Positionen des Thomas beantwortet, zum Beispiel zu seinem Umgang mit Häretikern oder Homosexuellen. Aber auch Immanuel Kant war ein Anhänger der Todesstrafe, Aristoteles ein Verteidiger von Sklaverei und Ungleichbehandlung von Frauen, selbst biblische Texte sind nicht frei von Intoleranz und Gewalt. An ihrer Bedeutung ändert das nichts: Nicht wegen ihrer zeitgebunden-überholten Meinungen verdienen solche Werke Interesse, sondern wegen ihrer überzeitlich bedeutenden Beiträge zu Grundfragen des Menschen, zur Suche nach Wahrheit, einem guten Leben sowie der Freiheit des eigenen Denkens und Gewissens. In all diesen Punkten hat Thomas von Aquin Wichtiges zu sagen, nicht zuletzt – wie Papst Franziskus richtig erkannt hat – auch zu den theologischen Fragen, welche die Kirche heute bewegen.
Es scheint daher höchste Zeit, dass die katholische Theologie auch im deutschsprachigen Raum den Aquinaten – und andere christliche Denker wie Augustinus, Albertus Magnus und Duns Scotus – neu entdeckt und wieder in den Fokus von Forschung und Lehre stellt. Diese Christen, die, wissenschaftlich auf der Höhe ihrer Zeit, ihren Glauben rational reflektieren, begründen und kritisch diskutieren, sind auch heute großartige Gesprächspartner, um die geistigen Ressourcen des Christentums zu entfalten und in gesellschaftliche Diskurse einzubringen.