70 statt 40 Tage: Warum manche Christen "vor-fasten"
Die Fastenzeit naht – und damit 40 Tage der Besinnung, der Buße und des Verzichts. Christen bereiten sich damit ab Aschermittwoch auf das kommende Osterfest vor. Das biblische Vorbild für diese 40-tägige österliche Bußzeit ist die Erzählung von der Versuchung Jesu: Dieser hatte 40 Tage und Nächte in der Wüste gefastet, wo er den Versuchungen des Teufels widerstehen musste (Mt 4,1-11). Erst hiernach begann er sein öffentliches Wirken.
Was heute weitestgehend in Vergessenheit geraten sein dürfte: Früher dauerte die Bußzeit länger als die bekannten 40 Tage. Bis zur Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils gab es in der Kirche noch eine zusätzliche Phase der Vorbereitung, die der eigentlichen Fastenzeit vorgeschaltet war: die sogenannte "Vorfastenzeit". Diese verlängerte die vorösterliche Bußzeit auf 70 Tage, ist heute aber aus der Kirche fast ganz verschwunden.
Uralter Brauch
Der Brauch einer Vorfastenzeit kann als antik bezeichnet werden, denn er ist in der lateinischen Kirche schon seit dem 6. Jahrhundert nachweisbar. Die Zeit begann mit dem dritten Sonntag vor Aschermittwoch, also dem neunten Sonntag vor Ostern. Dieser trug den Namen "Septuagesima", was aus dem Lateinischen übersetzt "der siebzigste (Tag vor Ostern)" bedeutet.
Wohlgemerkt: Exakt 70 Tage sind es nicht. Wer nachrechnet, wird feststellen, dass dafür eine ganze Woche fehlt. Vermutlich wurde ursprünglich die Osteroktav mitgerechnet: also die Zeit ab Ostersonntag, in der das Fest gewissermaßen auf acht Tage "gestreckt" wird. Nach anderer Auffassung handelt es sich bei der 70 lediglich um eine aufgerundete Zahl, die symbolischen Charakter hat. Von einer Aufrundung zeugt auch der Name des zweiten Sonntags der Vorfastenzeit: "Sexagesima" ("der sechzigste"), der eigentlich 56 Tage vor Ostern liegt. Der dritte Sonntag, "Quinquagesima", hingegen ist tatsächlich "der fünfzigste" Tag vor dem Osterfest.
Die 70 hat wie die Zahl 40 eine biblische Grundlage. Sie erinnert an die Zeit des sogenannten babylonischen Exils – auch "babylonische Gefangenschaft" genannt –, von der das Alte Testament berichtet: Die Heilige Stadt Jerusalem und ihr Tempel waren von babylonischen Eroberern zerstört und ein Großteil der Bevölkerung Judäas nach Babylon verschleppt worden. Für das jüdische Volk begann eine Epoche des Wartens auf die Heimkehr, eine Zeit der Gottesferne, denn das Exil interpretierte man als göttliche Strafe für den eigenen Ungehorsam. Der Überlieferung nach sollen 70 Jahre vergangen sein, bis die Exilierten wieder in das gelobte Land zurückkehren konnten (Jer 25,11). In Anlehnung an diese Zeitspanne umfasste die österliche Bußzeit inklusive Vorfastenzeit 70 Tage – als Sinnbild für eine Zeit des Wartens auf die göttliche Erlösung.
Die Vorfastenzeit besaß – wie die eigentliche Fastenzeit ab Aschermittwoch – zwar Bußcharakter und kann somit als eine Art Verlängerung verstanden werden. Dennoch sind beide Phasen auseinanderzuhalten: Anders als in der "Quadragesima" – der 40-tägigen Fastenzeit – war in der Vorfastenzeit nie "offiziell" ein Fasten seitens der Kirche vorgeschrieben. Sie hatte eher den Sinn einer Übergangszeit und Hinführung: von der freudigen Weihnachtszeit – die früher bis in den Februar hineinreichte – hin zur ernsten Fastenzeit. Aufgrund des beweglichen Ostertermins konnten sich Weihnachts- und Vorfastenzeit durchaus überschneiden. Um hier klarer abzugrenzen und die Zeit von Aschermittwoch bis Gründonnerstag stärker als eigentliche österliche Bußzeit zu profilieren, wurde die Vorfastenzeit im Zuge der Liturgiereform von 1969 aufgehoben. Seitdem gilt der Zeitraum zwischen dem Fest Taufe des Herrn – heute der Abschluss der Weihnachtszeit – und dem Aschermittwoch schlicht als erster Teil der "Zeit im Jahreskreis".
Die "alte" Liturgie kennt sie noch
Wer allerdings die Liturgie nach der außerordentlichen Form des römischen Ritus – auch alte oder tridentinische Liturgie genannt – feiert, der kennt als Katholik auch heute noch die Vorfastenzeit. Liturgisch wird die Verbindung zur Quadragesima in dieser Phase schon durch das Tragen violetter Messgewänder deutlich. Zudem entfallen während der Messe bereits das Gloria und ebenso der freudige "Halleluja"-Ruf, der erst wieder in der Feier der Osternacht erklingt. Die Schrifttexte der Vorfastenzeit künden von alttestamentlichen Gestalten, die auf Christus als Erlöser und Vollender hinweisen: von Adam, dem Stammvater der Menschheit, dem Jesus als "neuer Adam" gegenübersteht; von Noah, dessen Arche als Ort der Sammlung und Rettung auf die Kirche Christi verweist; und von Abraham, der bereit war, seinen Sohn zu opfern – so wie Jesus, der Gottessohn, sich am Kreuz geopfert hat.
Eine Vorfastenzeit kennen bis heute übrigens auch evangelische Christen unter dem Namen "Vorpassionszeit". Und auch in der Orthodoxie sind den sechs Fastenwochen drei "Vorfastenwochen" vorgeschaltet – hier sogar schon mit teilweise strengen Fastenregeln verbunden.
Hinweis: Dieser Text erschien erstmals am 12.02.2018.