Der Theologe des Papstes
Walter Kasper hat viel erreicht in seinem langen Leben: Als Theologe genießt er Weltruf, als Bischof von Rottenburg-Stuttgart war er einer der profiliertesten Kirchenmänner der Bundesrepublik und zuletzt gab er als Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen bedeutende Impulse für den ökumenischen Dialog. Doch ihren Höhepunkt erreichte seine kirchliche "Karriere" erst zu einem Zeitpunkt, als er längst im Ruhestand war und kein Amt mehr innehatte.
Bis zum 17. März 2013 war Kasper einer von mehr als 200 Kardinälen der katholischen Kirche, einer der bekannteren zwar, aber keiner der ganz großen Namen. Doch das änderte sich, als der vier Tage zuvor gewählte Papst Franziskus öffentlich Werbung für Kaspers neues Buch "Barmherzigkeit" machte und den Autoren als "großartigen Theologen" würdigte. Die Lektüre dieses Werkes habe ihm "sehr gut getan", sagte Franziskus anlässlich eines Angelus-Gebets auf dem Petersplatz.
Als der Papst Kasper dann ein Jahr später auch noch damit beauftragte, vor dem Kardinalskollegium das Einführungsreferat für die bevorstehende Bischofssynode über Ehe und Familie zu halten, bekam er in den italienischen Medien den Titel, den er fortan nicht mehr los wurde "Theologe des Papstes". Kasper lieferte dem Papst ein theologisches Fundament für seinen dezidiert seelsorgerischen Ansatz. Er hatte die Barmherzigkeit, die in der katholischen Theologe lange sehr stiefmütterlich behandelt wurde, als wesentliche Eigenschaft Gottes wiederentdeckt. Damit wurde er eine Art theologischer Vordenker des Pontifikats von Franziskus.
Umdenken bei wiederverheirateten Geschiedenen
In seinem Einführungsreferat vor den Kardinälen warb der deutsche Kardinal im Februar 2014 für ein behutsames Umdenken im kirchlichen Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen und plädierte letztlich für eine Zulassung zur Kommunion im Einzelfall.
Kaum jemand hätte sich für diese Aufgabe wohl besser geeignet als Kasper: Als renommierter Wissenschaftler lieferte er die nötigen theologischen Argumente aus der kirchlichen Tradition, in diesem Fall stammten sie vor allem von Thomas von Aquin. Als langjähriger Ortsbischof waren ihm zudem die seelischen Nöte vieler widerverheirateter Geschiedener vertraut. Und als Kurienkardinal wusste er schließlich, welchen Ton man vor diesem nicht eben für Innovationen bekannten Kollegium anschlagen muss, wenn man für Veränderungen werben will.
Dass die Bischofssynode über Ehe und Familie 2015 dann den Weg für eine Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen im Einzelfall freimachte und der Papst in seinem Schreiben "Amoris laetitia" die bisherige offizielle kirchliche Praxis änderte, war nicht zuletzt auch Kaspers Verdienst. Zwar hat er offenbar längst nicht alle von seiner Position überzeugen können, aber er dürfte doch etliche Unentschiedene oder der Debatte Fernstehende dafür gewonnen haben. Für einige Kritiker dieses päpstlichen Kurses, die sich zunächst nicht wagten, Franziskus direkt anzugreifen, wurde Kasper zur bevorzugten Ersatz-Zielscheibe.
Für Kasper war die kirchliche Öffnung gegenüber wiederverheirateten Geschiedenen auch eine späte Bestätigung. Denn sein Vorstoß in diese Richtung als Bischof von Rottenburg-Stuttgart, den er 1993 gemeinsam mit dem Mainzer Bischof Karl Lehmann und dem Freiburger Erzbischof Oskar Saier unternommen hatte, war damals am Einspruch der vatikanischen Glaubenskongregation gescheitert.
Nach Auffassung mancher Insider war Kasper möglicherweise auch nicht ganz unschuldig daran, dass der Erzbischof von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio, überhaupt zum Papst gewählt wurde, auch wenn der Kardinal selbst von solchen Spekulationen nichts hören möchte. Als ihn die deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl, Annette Schavan, einmal als einen der "Papstmacher" vorstellte, wies er das bescheiden von sich. Jedenfalls war er wohl der einzige unter den deutschen Kardinälen, der Bergoglio vor der Wahl persönlich mehr als nur flüchtig begegnet ist. "Schon damals war ich von seiner Persönlichkeit beeindruckt", sagte Kasper jüngst im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur. Dieser tiefe Eindruck, den Bergoglio bei Kasper hinterlassen hatte, spiegelt sich in seinem Beitrag über das Konklave wieder, den er 2013 für einen Sammelband des ZDF-Journalisten Jürgen Erbacher verfasste. Unter den deutschen Kardinälen, die an der Papstwahl teilgenommen hatten, und deren Beiträge in dem Buch versammelt waren, lässt Kaspers Aufsatz mit Abstand am meisten Begeisterung für Franziskus erkennen.
Dabei hatte Kasper Glück, dass er noch am Konklave teilnehmen konnte. Denn er hatte bei dessen Zusammentritt bereits das 80. Lebensjahr vollendet. Er profitierte jedoch von der Regelung, dass der Todestag eines Papstes, in diesem Fall das Rücktrittsdatum von Benedikt XVI., als Stichtag zählt, und das war der 28. Februar.
Vom Lehrersohn zum Professor zum Bischof
Kasper, der am 5. März 1933 im schwäbischen Heidenheim als Sohn eines Lehrers geboren wurde und in Wangen im Allgäu aufwuchs, begann seine wissenschaftliche Karriere in Tübingen, wo er von 1961 bis 1964 als Assistent von zwei Professoren wirkte, die unterschiedlicher kaum sein könnten, Leo Scheffczyk und Hans Küng, der eine wurde später Kardinal, dem anderen wurde die Lehrerlaubnis entzogen. Zuvor hatte er 1961 mit einer Arbeit über "Die Lehre von der Tradition in der Römischen Schule" den theologischen Doktortitel erworben. Vorausgegangen war von 1952 bis 1956 ein Studium der Theologie und Philosophie in Tübingen und München. Erstmals auf sich aufmerksam gemacht hatte der junge Theologe Kasper hierbei schon 1954 mit einer Arbeit über ebenjenen Kirchenlehrer, der ihm 60 Jahre später die Argumente für ein Umdenken im kirchlichen Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen lieferte: Thomas von Aquin. Ihr Titel lautete: "Die Lehre von der menschlichen Erkenntnis in den Quaestiones disputatae de veritate des Thomas von Aquin".
Nach seiner Habilitation über Philosophie und Theologie der Geschichte in der Spätphilosophie Schellings 1964 wurde er noch im selben Jahr im Alter von nur 31 Jahren auf den Dogmatik-Lehrstuhl an der Universität Münster berufen, 1970 wechselte er nach Tübingen. Kaspers wohl bekanntestes theologisches Buch ist das 1974 erschienene "Jesus, der Christus", das heute noch als Standardwerk der Christologie, also der Lehre von Christus, gilt. Kasper vertritt darin eine geschichtliche Christologie. Deren zentrale Aufgabe sieht er darin, zu fragen, wer Jesus konkret war und was es mit seiner Botschaft auf sich hat. Damit grenzte er sich bewusst vom damals in der katholischen Theologie einflussreichen christologischen Entwurf Karl Rahners ab, der in erster Linie philosophisch-anthropologisch ausgerichtet war.
Von Tübingen aus wurde Kasper 1989 von Johannes Paul II. an die Spitze des Bistums Rottenburg-Stuttgart berufen. Über die Grenzen des Bistums hinaus machte er in dieser Zeit vor allem mit seiner Initiative zugunsten wiederverheirateter Geschiedener von sich reden. Kasper ist aber auch der Hauptautor des ersten Bandes des Erwachsenen-Katechismus, den er im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz verfasste.
Als ausgewiesener Ökumene-Fachmann holte Papst Johannes Paul II. Kasper 1999 schließlich nach Rom, zunächst als Sekretär des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, zwei Jahr später machte er ihn zu dessen Präsidenten. Bereits 1979 war Kasper zum Berater dieser Ökumene-Behörde berufen worden. Im selben Jahr wurde er auch zum Vertreter der Katholischen Kirche in der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung des Weltrates der Kirchen (ÖRK) ernannt.
In seiner Amtszeit als vatikanischer Ökumene-Verantwortlicher sah sich Kasper oft mit schwierigen Situationen konfrontiert, die viel diplomatisches Geschick, aber auch klare Positionierungen erforderten. So etwa als der Papst 2002 Bistümer in Russland errichtete und daraufhin zeitweilige Funkstille zwischen Rom und dem Moskauer Patriarchat herrschte. Oder als die Anglikaner 2008 Frauen zum Bischofsamt zulassen wollten und Kasper sie eindringlich davor warnte. Auch im Verhältnis zum Judentum, das Kasper ebenfalls verantwortete, war diplomatisches Geschick gefragt. Dass sich die Beziehungen nach den Irritationen infolge der Neuformulierung der Karfreitagsfürbitte durch Benedikt XVI. und später der Aufhebung der Exkommunikation des traditionalistischen Holocaust-Leugners Richard Williamson wieder normalisierten, ist nicht zuletzt Kaspers Verdienst.
Kasper wurde in all den Jahren im Vatikan nie das, was man – mit negativen Beigeschmack - einen Kurialen nennt. Er war stets loyal, aber er blieb auch immer ein deutscher Theologie-Professor. Und als solcher machte er bei aller gebotenen Zurückhaltung keinen Hehl daraus, dass er die Erklärung "Dominus Iesus" vom damaligen Kardinal Joseph Ratzinger im Hinblick auf die evangelischen Kirchen etwas vorsichtiger formuliert hätte.
"Heiliger Vater, wenn Sie mich brauchen, bin ich da"
Zum engsten Beraterkreise des Papstes gehört Kardinal Kasper heute nicht. "Ich treffe ihn gar nicht so häufig, wie viele meinen; meist treffe ich ihn nur mit vielen anderen zusammen", sagte Kasper jüngst in einem Interview. Er habe dem Papst am Anfang gesagt: "Wenn Sie mich brauchen, dann bin ich da und stehe zur Verfügung. Aber ich dränge mich nicht auf".
Aber sein Wort hat bei Franziskus offenbar Gewicht. So war es Kasper, der den argentinischen Papst, der grundsätzlich keine persönlichen Ehrungen mehr wollte, davon überzeugte, den Internationalen Karlspreis anzunehmen. So berichtete es Franziskus selbst. Und als der Papst die Evangelisch-lutherische Gemeinde Roms besuchte, sagte er: "Auf die Frage über das gemeinsame Abendmahl des Herrn zu antworten, ist nicht einfach für mich, vor allem vor einem Theologen wie Kardinal Kasper. Da fürchte ich mich!" Der Papst nannte Kasper, obwohl auch der amtierende Präsident des Päpstlichen Rats für die Einheit der Christen, Kardinal Kurt Koch, in der Kirche anwesend war.
Kasper ist auch nach seinem Ruhestand 2010 in Rom geblieben und reist als allseits gefragter Redner und Berater nach wie vor durch die Welt. Seine Wohnung, eigentlich müsste man der Büchermasse wegen besser sagen "seine Bibliothek", liegt direkt an den vatikanischen Mauern. In der Ewigen Stadt feiert der einstige Rottenburger Bischof auch das Jubiläum seiner Bischofsweihe vor 30 Jahren.
Dieser Text erschien bereits im März 2018 auf katholisch.de und wurde nun aktualisiert neu veröffentlicht.