Der unsichtbare Gott und seine Ersatzkörper
Sprache, Bilder, Schrift: Seit jeher ist die Geschichte der Religionen immer auch eine Geschichte von Medien gewesen. Die wechselnden Medien wurden zu Körpern der eigentlich körperlosen Götter, genauer zu "Ersatzkörpern" – lateinisch: "Corpora". Diesen Titel trägt auch das neue Buch von Eckhard Nordhofen, in dem der Philosoph und Publizist die Geschichte der "Gottesmedien" rekonstruiert. Im katholisch.de-Interview spricht Nordhofen über die Entstehung des Monotheismus, das Gefahrenpotenzial des Ein-Gott-Glaubens, den entscheidendsten Medienwechsel der Menschheitsgeschichte und die Fehlinterpretation einer Vaterunser-Bitte.
Frage: Herr Nordhofen, Sie untersuchen in Ihrem Buch die Mediengeschichte des Monotheismus. Warum verstehen Sie die Entwicklung des Ein-Gott-Glaubens primär als Geschichte von Medien?
Nordhofen: Weil der entscheidende Schritt vom Glauben an die vielen Götter hin zum Monotheismus nur mithilfe eines Medienwechsels gegangen werden konnte. Das Leitmedium des Polytheismus waren die Götterstatuen. Dabei handelte es sich um meist suggestive Figuren, die bei der Verehrung dazu einluden, mit ihnen den Blick zu tauschen. Im Babylonischen Exil wurden die verschleppten Judäer Zeugen, wie die dortige Priesterschaft alles daransetzte, die Herstellung dieser "Götter von Menschenhand" zu verschleiern. Hier gelangte der Monotheismus zu einem religionskritischen Durchbruch. Die Kritik der Judäer an den selbstgemachten Kultbildern führte zu einem Medienwechsel: Das Bild wurde in der Folge durch das Medium Schrift ersetzt.
Frage: Eine große Zäsur in der Mediengeschichte…
Nordhofen: Ja, und nicht die einzige. Das Urmedium der Menschheit ist die Sprache. Mithilfe der Sprache können wir etwas ins Bewusstsein rufen, was nicht hier und nicht jetzt präsent ist. Ein Beispiel: Wenn ich "Brathähnchen" in eine Gesellschaft von Hungrigen rufe, kann das bei ihnen Speichelfluss auslösen, obwohl alle wissen, dass sie das Wort nicht essen können. Das Brathähnchen ist da, nämlich in unserem Bewusstsein, und doch nicht da. Vor zirka 5.000 Jahren kam es dann zu einem entscheidenden kulturhistorischen Schwellenereignis: Die Schrift entstand, gut 2.000 Jahre später die ersten Alphabete. Die Sprache konnte nun eins zu eins festgehalten werden.
Frage: Was brachte diese Neuerung für den Monotheismus?
Nordhofen: Israel machte sich als erstes Volk ein entscheidendes Merkmal des "neuen" Mediums zunutze: Die Schrift an sich kann niemals mit dem verwechselt werden, was sie bedeutet. Das war ein großer Vorteil gegenüber den alten Kultbildern. Das Kultbild suggeriert seinem Betrachter eine Präsenz, die als Fiktion durchschaubar ist. Die Wörter hingegen, die in der Schrift zum Objekt geworden sind, rufen etwas ins Bewusstsein, das sich gleichzeitig den Sinnen entzieht. Der religionskritische Vorwurf an die Polytheisten war ja: "Ihr macht euch eure Götter selber, und zwar nach euren Bedürfnissen." Israel spricht in der Schrift aber nun von einem Gott, der ganz anders ist. Sein "Name" ist JHWH, "Ich bin da", aber sehen kann man ihn nicht. Er ist eine Wirklichkeit eigener Art. Ein Gott, der sich vorenthält, über den ich nicht verfügen kann. Er ist das große Gegenüber, der Schöpfer des Kosmos.
Frage: Die Schrift ist also essentiell für die Entwicklung des Ein-Gott-Glaubens. Dennoch schreiben Sie, dass der Monotheismus durch das Medium Schrift "toxisch", also "giftig", werden könne. Wie genau ist das gemeint?
Nordhofen: Ethnologen haben beobachtet, dass es in der Religionsgeschichte der Menschheit noch nie vorgekommen ist, dass ein Kult ersatzlos verschwindet. So konnte der Durchbruch zum Monotheismus nur gelingen, weil Israel den Bilderkult durch einen Schriftkult ersetzt hatte. Ich nenne das analog zur "Idolatrie" – also dem Götzendienst durch Bilder – die "Grapholatrie". Gott selbst schreibt – wie es im Buch Exodus heißt – mit dem Finger die Zehn Gebote auf die steinernen Tafeln und macht dann Mose quasi zu seinem Sekretär. Das neue Medium wird so zur "Heiligen Schrift". Und dieses kultfähige Medium ist dann in der Lage, die Kultbilder zu ersetzen. Aber das birgt eben auch große Risiken: Der Monotheismus entartet immer dann und wird toxisch, wenn der Besitz eines heiligen Buches mit dem Besitz der Wahrheit verwechselt wird. Denn wer sich im Besitz der göttlichen Wahrheit wähnt, dem ist oft jedes Mittel zur Durchsetzung dieser Wahrheit recht.
Frage: Auch gewaltsame Mittel…
Nordhofen: In der Tat. Vor 20 Jahren hat der Ägyptologe Jan Assmann eine Behauptung aufgestellt, die viele Zeitgenossen schwer beeindruckt hat: Sie besagt, dass religiös motivierte Gewalt erst mit dem Glauben an nur einen einzigen Gott aufgekommen sei. Auch wenn er diese These in der Folge teilweise zurückgenommen hat, hält sie sich hartnäckig. Tatsächlich gibt es einen gefährlichen Monotheismus der "Wahrheitsbesitzer". Den muss man aber von dem Gott der Bibel unterscheiden, der sich offenbart, indem er sich gleichzeitig vorenthält. Dieser Unterschied bringt die aktuelle Debatte einen entscheidenden Schritt voran.
Frage: Den größten "Medienwechsel" brachte laut Ihrem Buch dann Jesus Christus…
Nordhofen: Ganz genau. Jesus ist derjenige, der, ohne die Tora zu verwerfen, ihre Defizite aufzeigt. Durch die Evangelien zieht sich sein Grundsatzkonflikt mit den Schriftgelehrten. Er will mehr, als die Schrift kann. Die Schrift ist nicht der Ort Gottes. Wer wissen will, was der Wille Gottes ist, findet hier durchaus eine erste Orientierung, mehr aber nicht. Die große Erkenntnis des Neuen Testaments lautet: Der Mensch ist das eigentliche Gottesmedium. Diesmal wird das Wort Fleisch – wie es zu Beginn des Johannes-Evangeliums heißt – und nicht Schrift.
Buchtipp:
Eckhard Nordhofen: Corpora – Die anarchische Kraft des Monotheismus. Verlag Herder. ISBN: 978-3-451-38146-1. 336 Seiten, 34 Euro.Frage: In diesem Zusammenhang beschreiben Sie auch die vierte Vaterunser-Bitte "Unser tägliches Brot gib uns heute" als fehlinterpretiert...
Nordhofen: Ja. Die Aufdeckung dieses Übersetzungsfehlers bekommt in meinem Buch einen großen Kontext. Hier treffen wir den entscheidenden Medienwechsel von der Schrift als Ort Gottes zum "Fleisch", also zum Menschen, als möglichem Ort Gottes. Im Vaterunser geht der Brotbitte die Bitte voraus "Dein Wille geschehe". In ihr ist die Frage aller Fragen enthalten: Was ist denn der Wille Gottes? Die Antwort der Schriftgelehrten war: "Das musst du in der Heiligen Schrift nachlesen." Die Antwort Jesu lautet: "Bitte jeden Tag den himmlischen Vater um Brot." Aber welches Brot ist gemeint? Ich konnte mit guten Argumenten zeigen, dass es hier eben nicht um das tägliche Essen gehen kann.
Frage: Sondern?
Nordhofen: Es geht – wie dann auch später in der Eucharistie – um maximale Gottesnähe. Ein Mensch, der täglich um dieses Brot bittet, macht auch jeden Tag ein Update: "Gott, wie bringe ich heute meinen Willen mit dem deinen zur Deckung?" Wer so betet, macht sich in der Tat zum Gottesmedium. Die gefühlte Gottesnähe kann aber auch eine gewaltige Versuchung erzeugen, nämlich den eigenen Willen mit dem Willen Gottes zu verwechseln. Das ist die Versuchung der frommen Beter. Damit das genau nicht passiert, heißt es in der sechsten Bitte des Vaterunser: "Und führe uns nicht in Versuchung."
Frage: In Ihrem Vorwort schreiben Sie, dass Papst em. Benedikt XVI. Ihrer Interpretation der Vaterunser-Bitte "zustimmte". Wann hat er das getan?
Nordhofen: Im ersten Band seines Jesusbuches ist Benedikt XVI. auch über die vierte Vaterunser-Bitte gestolpert. Daher habe ich ihm eine frühe Fassung meines Manuskripts zukommen lassen. Im März 2015 hat er mir in einem Brief dann zustimmend geantwortet. Ihn hat vor allem die "innere Logik" überzeugt, also dass es im Vaterunser einen Gedankenbogen gibt, bei dem die Bitten in einem folgerichtigen Zusammenhang stehen. Wenn ich bei der vierten Bitte um das "tägliche Brot" nur an Essen denke, geht dieser Zusammenhang verloren.
Frage: Im Untertitel des Buches ist von der "anarchischen Kraft" die Rede, die der Monotheismus entfalten kann. Was bedeutet diese Kraft für die Gläubigen von heute?
Nordhofen: Der Monotheismus – so meine These – ist so wichtig wie noch zu keiner anderen Zeit. Die letzten weißen Flecken unserer Wirklichkeit, die noch nicht funktional bewirtschaftet sind, schmelzen dahin. Heute bestimmt der Funktionalismus unseren Zugriff auf die Welt: Wir erklären sie, wir machen sie uns zunutze, und das hat durchaus Vorteile. Nur: Wenn der Funktionalismus so ziemlich alles für erklärbar und machbar hält, wird er totalitär. Das ist eine schleichende Bedrohung. So gewinnt die Frage eine überlebenswichtige Aktualität: Hat der Funktionalismus ein "Außerhalb"? Die Antwort liegt im Tetragramm JHWH. Das ist der "Name" des transfunktionalen Gottes, der "da ist", aber sich uns entzieht. Der Glaube an ihn durchbricht die Herrschaft des Funktionalismus – und insofern liegt in diesem Glauben, dem Monotheismus, eine starke anarchische Kraft.
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