Papst: Augen-Verdrehen in Ekstase macht nicht heilig
Papst Franziskus ruft Christen dazu auf, Heilige im Alltag zu sein. In einem am Montag veröffentlichten 48-seitigen Schreiben wirbt er für eine "Heiligkeit der Mittelschicht". Jeder könne mit Gottes Hilfe heilig sein; ob Priester oder Arbeiter, Eltern oder Eheleute, Ordensleute oder Politiker. Zugleich wendet er sich gegen gängige Klischees und Zerrbilder von Heiligkeit. Heilig sein bedeute nicht, "in einer vermeintlichen Ekstase die Augen zu verdrehen", so Franziskus. Maßstab müsse vielmehr das Jesus-Wort sein "Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan".
Der Papst kritisiert, dass dieser "Kern des Evangeliums" oft durch Ideologien entstellt werde. Einerseits gebe es die Gefahr, dass das Christentum zu "einer Art NGO" werde, weil soziales Engagement von der persönlichen Gottesbeziehung losgelöst werde. Ebenso "schädlich und ideologisch" sei es, dem sozialen Einsatz für die anderen zu misstrauen, weil man ihn "für oberflächlich, weltlich, säkularisiert, immanentistisch, kommunistisch oder populistisch" halte, oder ihn zu relativieren, "als würde es wichtigere Dinge geben".
Papst warnt vor religiöser Überheblichkeit
Als Beispiel nennt Franziskus die Verteidigung des ungeborenen unschuldigen Lebens. Sie müsse "klar, fest und leidenschaftlich sein, weil hier die Würde des menschlichen Lebens, das immer heilig ist, auf dem Spiel steht und es die Liebe zu jeder Person unabhängig von ihrer Entwicklungsstufe verlangt". Aber "gleichermaßen heilig" sei das Leben der Armen, die schon geboren seien und "sich herumschlagen mit dem Elend, mit der Verlassenheit, der Ausgrenzung, dem Menschenhandel, mit der versteckten Euthanasie der Kranken und Alten, denen keine Aufmerksamkeit geschenkt wird, mit den neuen Formen von Sklaverei und jeder Form des Wegwerfens".
In seinem Schreiben mit dem Titel "Gaudete et exsultate" (zu Deutsch: "Freut euch und jubelt") schildert Franziskus Alltagsszenen, in den sich Heiligkeit von Menschen zeige. Zudem warnt er vor Irrtümern und Haltungen, die ein christliches Leben behindern. Dazu zählt der Papst religiöse Überheblichkeit und kirchlichen oder technologischen Machbarkeitswahn. Er erinnert in diesem Zusammenhang an die bereits in der frühen Kirche verbreiteten Irrlehren des Gnostizismus und des Pelagianismus. Ebenso im Wege stünden einem heiligengemäßen Leben geistige Starrheit, Konsumsucht und egoistische Trägheit.
Kennzeichen eines heiligmäßigen Lebens sind laut Franziskus unter anderem Durchhaltevermögen, Freude, Sinn für Humor, Wagemut, Gemeinschaftssinn und Gebet. Heiligkeit sei "nichts anderes als in Fülle gelebte Liebe", zitiert der Papst seinen Vorgänger Benedikt XVI.
Heiligkeit wachse oft durch kleine Gesten, heißt es in dem Dokument. Franziskus nennt als Beispiel etwa eine Frau, die auf dem Markt geht, dort anfängt, mit ihrer Nachbarin zu tratschten, sich dann aber sagt: "Nein, ich werde über niemandem schlecht reden." Franziskus fährt fort: "Zu Hause möchte ihr Kind dann über seine Phantasien sprechen, und obwohl sie müde ist, setzt sie sich zu ihm und hört ihm mit Geduld und Liebe zu. Das ist ein weiteres Opfer, das heilig macht. Dann erlebt sie etwas Beängstigendes, aber sie erinnert sich an die Liebe der Jungfrau Maria, nimmt den Rosenkranz und betet gläubig. Das ist ein weiterer Weg der Heiligkeit. Dann geht sie aus dem Haus, trifft einen Armen und bleibt stehen, um liebevoll mit ihm zu reden. Das ist ein weiterer Schritt."
Weg zur Heiligkeit "ein ständiger Kampf"
Der Weg zur Heiligkeit des Christen sei "ein ständiger Kampf", schreibt der Papst weiter. Dieser gelte nicht nur rein weltlichen Einstellungen und eigenen Schwäche, sondern auch gegen den Teufel, der nicht nur ein Mythos sei. Er vergifte die Menschen "mit Hass, Traurigkeit, Neid, mit Lastern". Verlangt seien Wachsamkeit und ständige geistliche Unterscheidungen, was der Sinn des eigenen Lebens sei und wie dieser in einer jeweiligen Situation zu leben ist. Dazu gelte es zu beten, auf das Evangelium und die Kirche zu hören sowie auf Gottes Geduld zu vertrauen.
In seinem neuen Schreiben beklagt Franziskus auch die Verrohung in sozialen Netzwerken. "Sogar in katholischen Medien können die Grenzen überschritten werden; oft bürgern sich Verleumdung und üble Nachrede ein, und jegliche Ethik und jeglicher Respekt vor dem Ansehen anderer scheinen außen vor zu bleiben", schreibt der Papst. So entstehe ein gefährlicher Dualismus, "weil in diesen Netzwerken Dinge gesagt werden, die im öffentlichen Leben nicht tolerierbar wären, und man versucht, im wütenden Abladen von Rachegelüsten die eigene Unzufriedenheit zu kompensieren".
Weiter schreibt der Papst, es sei auffällig, dass unter dem Vorwand, andere Gebote zu verteidigen, das achte Gebot – "Du sollst kein falsches Zeugnis geben" – zuweilen komplett übergangen und das Ansehen anderer gnadenlos zerstört wird. Dort zeige sich ohne Kontrolle, dass die Zunge "eine Welt voll Ungerechtigkeit ist" und "das Rad des Lebens in Brand setzt", während sie selbst "von der Hölle in Brand gesetzt" wird. (tja/KNA)
Marx würdigt würdigt Apostolisches Schreiben
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, hat das Apostolische Schreiben "Gaudete et exsultate" von Papst Franziskus gewürdigt. Der Papst wolle damit - unter klarer Zurückweisung aller Verhärtung und Vergrämung - die Freude als Grundstimmung des Christentums betonen, sagte Marx am Montag in Bonn. Die christliche Botschaft solle demnach als befreiend und erlösend erfahren werden. In diesem Sinn stehe das Schreiben im Einklang mit der gesamten Verkündigung dieses Pontifikats.
Nicht eine normative Verbotsethik, sondern eine appellative Tugendethik stehe bei Franziskus im Vordergrund, so Marx weiter. Sie lade dazu ein, "das Gute im Geist Christi zu tun". Hinweise dafür schöpfe der Papst aus den Quellen christlicher Tradition: "Augustinus, Thomas von Aquin, Ignatius von Loyola, aber auch viele andere werden zitiert." Diese Ethik sei alles andere als ein harmloses Sprechen im Konjunktiv. Es gehe um den Einsatz für Arme, Ausgegrenzte und Unterdrückte und gegen jede Art von Egoismus und Individualismus. "Das Schreiben ist eine authentische Aufforderung von Papst Franziskus, voll Freude, Optimismus und Offenheit für Gottes Wort alles Mittelmaß hinter sich zu lassen und aufzubrechen", sagte der Kardinal.
Ein Versuch, Gaudete et exsultate unter kirchenpolitischen Aspekten zu analysieren, gehe mit Sicherheit an der Intention des Heiligen Vaters vorbei, so Marx. "Wer sich hingegen anstecken lässt, das eigene Leben zu überdenken und darin neu nach der Heiligkeit zu suchen, ist auf dem richtigen Weg." (bod)
09.04.2018, 16.38 Uhr: Ergänzt um das Statement von Kardinal Marx.