Warum der Staat den Kirchen immer noch Geld zahlt
Am vergangenen Mittwoch wurde in Weimar an den 100. Jahrestag der konstituierenden Sitzung der Weimarer Nationalversammlung erinnert. Bei einem Festakt im Deutschen Nationaltheater – dem damaligen Verhandlungsort – lobten Redner wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Arbeit der Nationalversammlung, die damals in wenigen Monaten die erste demokratische Verfassung Deutschlands ausgearbeitet und am 31. Juli 1919 verabschiedet hatte.
Obwohl die erste demokratische Republik auf deutschem Boden nur knapp 14 Jahre später vom Nationalsozialismus abgelöst wurde und deshalb als gescheitert gilt, wurden bei der Ausarbeitung des heutigen Grundgesetzes zahlreiche Inhalte der Weimarer Reichsverfassung für die Bundesrepublik übernommen. Neben den Grundrechten gilt das vor allem für die Verfassungsartikel, die sich dem Staat-Kirche-Verhältnis und der Stellung der Religionsgemeinschaften widmen.
Fünf Verfassungsartikel zum Staat-Kirche-Verhältnis
Hierbei übernahmen die Mütter und Väter des Grundgesetzes einige Artikel sogar im Wortlaut. So heißt es in Artikel 140 des Grundgesetzes: "Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes." Inhalt dieser fünf von Weimar übernommenen Artikel sind unter anderem die Freiheit der Religionsgemeinschaften, "ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes" zu ordnen und zu verwalten (Artikel 137) und der besondere Schutz des Sonntags und der staatlich anerkannten Feiertage "als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung" (Artikel 139).
„Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.“
Ein weiterer Artikel, der wortgleich aus der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz übernommen wurde, betrifft die sogenannten Staatsleistungen. Der erste Absatz von Artikel 138 der Verfassung von 1919 lautet: "Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf." Gefolgt ist daraus in den vergangenen 100 Jahren: nichts. Die Regierungen von Weimar, Bonn und Berlin haben an sie gerichteten Auftrag bis zum heutigen Tag nicht erfüllt. Kritiker sprechen deshalb von einem seit 100 Jahren andauernden Verfassungsbruch.
Doch was sind überhaupt Staatsleistungen? Als Staatsleistungen werden – im Unterschied zur Kirchensteuer – finanzielle Zuwendungen des Staates an die Kirchen bezeichnet, die teilweise bis in die Zeit der Reformation zurückreichen, ihren Ursprung größtenteils aber im 19. Jahrhundert haben. Im Zuge der Säkularisation mussten die Kirchen damals große Teile ihres Besitzes und damit ihrer Einnahmequellen an den Staat abtreten. Zum Ausgleich wurden Verträge geschlossen, in denen sich die einzelnen deutschen Staaten dazu verpflichteten, den Kirchen Zahlungen für deren Verluste sowie den Unterhalt der kirchlich genutzten Gebäude zu zahlen. Diese Verträge blieben auch nach 1919 gültig.
Schuld hat die Politik
Dass es bis heute nicht zum Versuch einer Ablösung gekommen ist, ist – anders als von Kirchenkritikern immer wieder unterstellt – vor allem die Schuld der Politik. Bundesregierung und Bundesländer haben sich in den vergangenen Jahrzehnten nie ernsthaft darum bemüht, dem in Artikel 138 gestellten Verfassungsauftrag nachzukommen.
Das überrascht umso mehr, als es sich bei den Staatsleistungen nicht um "Peanuts" handelt. Laut einer Umfrage der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) beliefen sich die Zahlungen der Bundesländer an die beiden großen Kirchen im vergangenen Jahr insgesamt auf rund 520 Millionen Euro. Und die Summen steigen weiter, weil die Leistungen meist dynamisiert sind und deshalb jährlich angepasst werden. Unter den Bundesländern zahlte Baden-Württemberg 2018 mit rund 126 Millionen Euro die meisten Staatsleistungen, in Nordrhein-Westfalen bekamen die Kirchen rund 22,9 Millionen Euro. Eine Ausnahme bilden lediglich Bremen und Hamburg, die aus historischen Gründen keine Staatsleistungen zahlen.
Der Vergleich zwischen Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen zeigt: Einen einheitlichen Schlüssel für die Berechnung der Staatsleistungen gibt es nicht, auch die Zahl der Kirchenmitglieder ist unerheblich. Interessant ist aber, dass die evangelische Kirche zuletzt deutlich mehr Geld erhalten hat als die katholische Kirche. Während die Protestanten knapp 317 Millionen Euro von den Bundesländern bekamen, waren es bei den Katholiken "nur" rund 203 Millionen Euro.
Hauptgrund dafür, dass die Staatsleistungen von der Politik bislang nicht angetastet wurden, ist wohl die Angst der Bundesländer vor einer dicken Endabrechnung. Denn die von der Verfassung geforderte Ablösung bedeutet, dass die Beendigung der Zahlungen mit einer einmaligen Entschädigung an die Kirchen verbunden werden müsste. Mehrheitlich wird davon ausgegangen, dass die Kirchen hierbei Anspruch auf mehrere Milliarden Euro hätten – eine Summe, die in den einzelnen Bundesländern wohl nur schwer vermittelbar wäre.
Linktipp
Weitere Informationen zu den Staatsleistungen – unter anderem ein Lexikon mit wichtigen Begriffen – finden Sie auf der Internetseite der Deutschen Bischofskonferenz.Hinzu kommt das Problem, dass die Verfassung nicht nur den Bundestag, sondern auch die einzelnen Landesparlamente zum Handeln zwingt – was eine Lösung erheblich erschwert. Der Bundestag müsste nach allgemeiner Auffassung zunächst ein Grundsätzegesetz erlassen, um den Bundesländern darin einen Rahmen für die Ablösung ihrer Staatsleistungen vorzugeben. Erst danach könnten die Länder in konkrete Verhandlungen mit den Kirchen treten. Doch ein Grundsätzegesetz ist nicht in Sicht. Gegenüber der Tageszeitung "Die Welt" bekräftigte das Bundesinnenministerium vor wenigen Tagen seine Haltung, die es schon 2013 und 2014 auf entsprechende Anfragen der Linksfraktion geäußert hatte: "Die Bundesregierung sieht gegenwärtig keinen Handlungsbedarf, durch ein Grundsätzegesetz die Länder zu verpflichten, die von diesen gewährten Staatsleistungen abzulösen."
AfD, FDP und Linke wollen die Staatsleistungen abschaffen
Trotzdem wollen in dieser Legislaturperiode einige Oppositionsparteien den Versuch unternehmen, die Staatsleistungen endgültig zu kippen – dies allerdings angesichts der herrschenden Mehrheitsverhältnisse wohl ohne Aussicht auf Erfolg. Konkret kündigten AfD und FDP in der "Welt" entsprechende Initiativen an. Die FDP wolle demnächst "eine entsprechende politische Initiative entwickeln", so Stefan Ruppert, der kirchenpolitische Sprecher der Liberalen. Nach seiner Ansicht wäre "die Ablösung der Staatsleistungen nicht nur ein wichtiger Beitrag für weltanschauliche Neutralität, sondern würde auch die Glaubwürdigkeit der Kirchen durch die völlige Gleichstellung mit anderen Körperschaften steigern". Es gelte aber, "die Rechte der Kirchen zu beachten" und "mit ihnen in konstruktive Gespräche einzutreten".
Ähnlich äußere sich die AfD-Fraktion. Nach Aussage ihres kirchenpolitischen Sprechers Volker Münz bereitet die größte Oppositionsfraktion "eine parlamentarische Initiative zur Ablösung in dieser Wahlperiode vor". Münz begründete diese Position auch mit einer kritischen Sicht seiner Partei auf die Kirchen: Es mangele ihnen an "Standfestigkeit gegen die Stürme des Zeitgeistes". Die Kirchen hätten "sich trotz Mitgliederrückgangs bequem auf die Geldflüsse eingerichtet".
In ähnlicher Weise hat sich bereits vor längerer Zeit die Linke positioniert. Deren Fraktion hatte schon vor einigen Jahren einen Entwurf für ein Grundsätzegesetz eingebracht – war damit aber an der Parlamentsmehrheit gescheitert. "Selbstverständlich", so Linke-Politikerin Christine Buchholz jetzt in der "Welt", "setzen wir uns auch in dieser Wahlperiode dafür ein, endlich den Verfassungsauftrag umzusetzen." Es könne nicht angehen, "dass die Verantwortung von einer Stelle zur anderen geschoben wird und die Bundesregierung das Problem aussitzt." Gerade in Zeiten größerer religiöser und weltanschaulicher Vielfalt, müsse "diese Bevorzugung der großen christlichen Kirchen beendet werden".
Kirchen sind zur Ablösung der Staatsleistungen bereit
Das es in absehbarer Zeit tatsächlich zu einer Ablösung der Staatsleistungen kommt, ist trotzdem unwahrscheinlich. Dies liegt vor allem daran, dass die Große Koalition bei dem Thema auf die Bremse tritt. Man sehe keinen aktuellen Handlungsbedarf, hieß es vergangene Woche aus der SPD. Ähnlich äußerte sich der kirchenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Hermann Gröhe. Eine Ablösung der Staatsleistungen sei für ihn "keine vordringliche politische Aufgabe". Als "unangemessen" bezeichnete der CDU-Politiker zudem "eine polemische Kritik an den Staatsleistungen", da sich "die beiden großen Kirchen zu Gesprächen über eine Ablösung bereit erklärt haben".
An den Kirchen würde die Ablösung der Staatsleistungen wohl tatsächlich nicht scheitern. Für die katholische Kirche betonte die Deutsche Bischofskonferenz: "Die Verfassung geht von einer Ablösung der Staatsleistungen aus. Allerdings hat es bislang, nicht zuletzt wegen der damit verbundenen sehr erheblichen Kostenverpflichtungen, keine diesbezügliche Initiative des Bundes gegeben, der die Grundsätze für eine Ablösung aufzustellen hat. Die Kirche wird sich einer weitergehenden Lösung nicht verschließen, wenn und soweit diese ausgewogen ist." Schon heute träfen die Kirchen und einzelne Bundesländer immer wieder Absprachen über Änderungen und Ablösungen einzelner Staatsleistungen.