Was Religionslehrer von Netflix lernen können
HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Donnerstag, 13.25 Uhr: Mit voller Begeisterung bin ich auf dem Weg zu meiner Klasse. Thema der Reihe: Ist der Mensch von Natur aus religiös? Mein Schwerpunkt heute: aktuelle Tendenzen der Religiosität zu Beginn des 21. Jahrhunderts und die sogenannte Patchworkreligiosität – also das Zusammenbasteln der eigenen Religion aus verschiedenen Weltanschauungen, vergleichbar mit dem Zusammennähen eines Flickenteppichs. Und dann die Frage: Wie stehen die Millennials und die Generation Z zu Religion? Dazu gibt’s eine Folge einer meiner Lieblingsserien, die ich dabei habe und mit den Schülerinnen und Schülern anschauen werden. Im Sinne von: Zeig’ deine Begeisterung und du begeisterst andere. Bis hierhin hört es sich wirklich gut an, oder? Ich könnte die Kolumne hier enden lassen. Wäre da nicht...
Donnerstag, 15.05 Uhr: 90 Minuten können lang sein. Hat nicht funktioniert, glaube ich. Und das, obwohl ich zu einem guten Thema eine aktuelle Serie geschaut habe! Mit einem Beamer! Und einem Funken Humor! Was ist da schief gelaufen? War das Thema nichts? Oder die Serie zu speziell, oder... Genug palavert. Was war da los?
Wenn Sie wissen wollen, wie (mein) Religionsunterricht heute funktioniert, dann sollten wir uns die Frage stellen, wie sich Themen entwickeln. Denn daran lag es. Meine Schüler haben im Unterricht mitgemacht und brav ihre Arbeitsaufträge erledigt. Aber man spürt sehr schnell, ob ein Thema zum Thema wird. Und das wurde es in dieser Stunde nicht. Einwände Ihrerseits? Vielleicht, dass nicht jedes Thema Begeisterungsstürme auslösen muss? Dass nicht jede Stunde ein Feuerwerk sein kann? Stimmt alles irgendwie. Aber unter uns: Wenn Sie etwas nicht interessiert, dann schalten Sie doch ab. Also muss doch wenigstens das Thema Sie fesseln.
Der Streaminganbieter meines Vertrauens
Und nun? Wie kriege ich mein Anliegen in ein Angebot verpackt, das auch funktioniert? Wer das beherrscht, sind Streaminganbieter für Filme und Serien. Ich habe mir dann Netflix, den Anbieter meines Vertrauens, daraufhin genauer angeschaut. Wie machen die das denn? Es wird mir gezeigt, was aktuell am meisten gesehen wird. Was also interessiert. Guter Hinweis. Und ich habe mir Serien angeschaut mit schwierigen, provokanten und moralischen Themen, die so "didaktisiert" sind, dass der Zuschauer einen Zugang findet – und dann bin ich mit meinen Erkenntnissen zurück in die Schule. Meine eigene "Staffel" – die "Patchworkreligiosität" – habe ich daraufhin abgesetzt.
Letztlich habe ich zwei Dinge gelernt. Zum einen, dass diese Plattformen abbilden, was gerade bewegt, und zum anderen, wie sich an Interessen vorgetastet werden kann. Das habe ich versucht anzuwenden. Was ist im Leben meiner Schüler los? Was interessiert sie? Und was würde ich dann thematisch dazu empfehlen? Die Schwierigkeit besteht darin, meine Themen in diesem Feld wiederzufinden und mich gleichzeitig inspirieren zu lassen.
Und wieder einmal die Erkenntnis, dass der Unterricht ein Angebot ist. Was meine ich damit? Ich biete ein Thema an. Und so, wie man sich dazu entscheiden kann, eine Serie anzuklicken, kurz anzuschauen und dann abzuschalten (geistig oder im eigentlichen Sinne), ist es eben auch bei Unterrichtsthemen.
Wollen Sie wissen, wie der besagte Unterricht weitergeht? Das Thema "Ist der Mensch von Natur aus religiös?" geht nun in eine korrigierte Richtung. Die Frage ist eher: Warum schließen sich Menschen fundamentalistischen Gruppen an und welche Faszination lösen Sekten aus? Ich bin beruhigt. Ich habe nicht vollkommen am Schüler vorbei geplant. Aber meine Schüler fanden in ihrer Umwelt eben andere Phänomene als ich.
Die große Chance liegt bei der schwierigen Themenfindung darin, dass es so viele Wege gibt, auf Material der Umwelt zuzugreifen. Ich muss dabei sehr, sehr aufmerksam sein und auf meine Schüler vertrauen, die mir Inspiration liefern.
Wie kommen die Schüler auf ihre Fragen?
Und wie kommen die Schüler ihrerseits darauf? Videos auf YouTube. Selbsternannte Propheten, die auf solchen Kanälen ihre Thesen verbreiten. Themen, die in Serien und Videospielen implizit oder explizit angesprochen werden. Ernsthafte Fragestellungen und auch Spartenthemen, die im aktuellen Infotainment der Streamingdienste so verarbeitet werden, dass sie Fragen der Menschen beantworten oder erst aufwerfen. Wer mir jetzt noch sagt, dass Seriengucken Zeitverschwendung ist, dem schicke ich gerne eine kleine Auswahl zu.
Aber mal im Ernst: Ist das nicht eine Chance, die Perspektive von jungen Menschen nachzuvollziehen? Geht’s nicht darum? Die Schüler dort abzuholen, wo sie stehen und eine (in diesem Fall christliche) Perspektive auf die Thematik zu bieten? Aber wie geht das, wenn die Schüler nicht mehr "stehen", sondern wie der Rest unserer Welt immer "weitergehen"?
Ein Thema findet sich nicht nur durch die Gleichung: Lehrplan plus eigene Begeisterung plus tolles Medium. Ich möchte in meinem Unterricht die Schüler auf ihrem Weg antreffen, ein Stück mitgehen und diesen Weg zum Lernen nutzbar machen. Ob ich nochmal einen Versuch starte, eine Serienfolge zu zeigen? Vielleicht sollten wir die zusammen aussuchen.