Abschied vom Religionsunterricht – und der Kirche?
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Vor dieser letzten Stunde sitze ich zu Hause vor einem Berg an Halbjahresarbeiten meiner Klasse und blättere nochmal darin. Mein letztes Unterrichtsangebot war die Erstellung eines Portfolios, also eine Art Werkmappe, die mit ausgewählten Arbeitsergebnissen gestaltet wird. Ich habe so ziemlich alles offen gelassen und angeregt, gemäß des eigenen Lerntyps zu arbeiten. Ein halbes Schuljahr galt es, sich mit den Themen Religion, Glaube und Religiosität vielfältig, kreativ und persönlich auseinanderzusetzen.
Beim Durchsehen denke ich an die letzten zwei Jahre Religionsunterricht mit dieser Klasse, die die Schule nun verlässt. Da gab es – um nur einen kleinen Einblick in meine Erinnerung zu geben - Gedankenexperimente zu Tugenden mit Ergebnissen, die "Lord of the Flies" in den Schatten stellen würden, in denen sich über Künstliche Intelligenz unterhalten wurde und ich mich auf einmal ganz schön alt fühlte. Schülerinnen und Schüler, die auf einer Ausstellung zum Thema Blindheit und einer anderen zum Thema Arbeit zeigten, dass sie sich aktuellen Themen unverkrampft und offen stellen.
Die letzte Stunde schlägt
Die Portfolios bringen mich zum Lachen, machen mich sprachlos und treiben mir auch mal ein Tränchen ins Auge. Mich bewegen die persönlichen Auseinandersetzungen. Ich darf teilhaben, wie mit Religion und Glaube gerungen wird, an der Auseinandersetzung mit Erfahrungen und auch an Kritik. Ich lese eine (selbst verfasste) Kurzgeschichte über die Suche nach Glück und der Entdeckung von "Mehr". Ich sehe Fotos von Kommunionen und Firmungen und finde Gedichte, Bilder und Tagebucheinträge.
Nun ist es soweit. Die letzte Stunde schlägt. Ich gebe die Portfolios zurück, sage ein paar verabschiedende Worte und bedanke mich. Was für ein schöner Abschied. Mit der Erinnerung an diese Arbeiten und der Gewissheit, dass da gerade Menschen den Raum verlassen, die sich mit Lebens- und Glaubensfragen auseinandersetzen.
Abschiede gestalten sich unterschiedlich. Eine Schülerin, die mich in ihrer Ehrlichkeit über die Jahre beeindruckte und von der ich gleichzeitig nicht immer wusste, ob sie etwas mit den Themen anfangen konnte, hat mir zum Abschied eine Mail geschickt. Sie wollte mir auf diesem Weg einen Dank aussprechen. Und sie wünschte mir alles Gute für meine Zukunft. Sie beschrieb, was die Arbeit am Portfolio in ihr auslöste.
Ich war zunächst geschmeichelt und zufrieden mit meinem Themenangebot. Dieses Gefühl hielt nicht lange und der Kloß im Hals folgte erneut. Wie mutig von ihr, so ehrlich zu sein und ihre Gefühle zu teilen. Ich kann nur ahnen, was es für eine Überwindung sein musste, sich so intensiv auf diese Themen einzulassen. Und das hat – das meine ich nicht aus falscher Bescheidenheit – wenig mit mir als Person oder als Lehrerin zu tun, sondern mit der Besonderheit des Faches Religion: Sich mit "Gott und der Welt" beschäftigen zu dürfen, um zu wachsen, zu zweifeln, sich zu entwickeln.Und wieder: Was für ein schöner Abschied. Ihre Worte gehen mir nah, denn ich lese sie nicht als Floskel, sondern als wirklichen Wunsch: "Alles Gute für die Zukunft."
Gegen Ende des Schuljahres geht nun auch eine Prognose durch die Onlineportale und Zeitungen. Im Kern geht sie so: Die Mitgliederzahlen der christlichen Kirchen sollen sich bis zum Jahr 2060 halbieren. Das hat gesessen. Wenn das mal kein Ausblick auf einen gewaltigen Abschied ist. Moment mal: Das sind doch meine Schülerinnen und Schüler, die diese Entscheidungen in der Zukunft tragen werden! Meine Schüler, die so tiefgründige, intelligente und reflektierte Portfolios geschrieben haben und zeigten, wie sehr sie sich mit den Themen Glaube und Religion auseinandersetzen.
Meine Schüler sind Suchende
Wovon verabschieden sich Menschen, die die Kirche verlassen? Ich würde gerne eine kluge Antwort darauf geben. Ich kenne die gängigen Meinungen dazu. Aber alles, was ich fühle, ist schon wieder dieser Kloß im Hals, auch weil die Erklärungen nicht auf meine Schüler passen wollen. Sie sind Suchende und geben zudem ganz offen zu, dass sie Schwierigkeiten haben, einen Bezug zur Glaubenspraxis zu finden. Für viele ist Kirche exotisch und spielt keine Rolle mehr in ihrem Leben. Der einzige Berührungspunkt ist der Religionsunterricht. Das lässt mich nachdenklich werden darüber, wie ein Unterricht der Zukunft aussehen darf. Oder heute schon sein sollte.
Nur manche Abschiede sind für immer. Meist diese, bei denen die Enttäuschung groß war oder es keinen vernünftigen Weg zurück gibt. Es kann auch bedeuten, abzuschließen und weiterzugehen, vielleicht um etwas Neues zu beginnen und neu zurückzukehren. Der Unterschied besteht darin, ob ich "Alles Gute für die Zukunft" sage oder "Auf Nimmerwiedersehen."
Was einen schönen Abschied ausmacht? Vielleicht sind es die Erfahrungen, die wir vor diesem miteinander machen. Das gilt für alle: Menschen und Institutionen.
Alles Gute. Auch in Zukunft. Man sieht sich!?