Wann man wirklich von Christenverfolgung sprechen kann
Christliche Schülerinnen in Nigeria entführt. Kirche in Vietnam geschlossen. Priester in Mexiko ermordet. Nahezu jeden Tag erreichen Schlagzeilen wie diese die deutsche Öffentlichkeit. Sie geben einen Eindruck von den Repressionen und der Gewalt, denen Christen in aller Welt ausgesetzt sind – und die im schlimmsten Fall sogar tödlich enden. Dabei handelt es sich jedoch keineswegs um Einzelfälle: 80 Prozent aller Menschen, die weltweit wegen ihrer Religion verfolgt werden, sind Christen, legt ein von der britischen Regierung in Auftrag gegebener und Anfang Mai veröffentlichter Bericht dar. Tendenz steigend.
Nach Gründen für Bedrängnis und Verfolgung fragen
Doch zu definieren, was als Christenverfolgung gilt und was nicht, ist keine leichte Aufgabe, denn oft werden sehr unterschiedliche Taten unter diesem Schlagwort zusammengefasst. Nicht immer, wenn Christen aufgrund ihres Glaubens Nachteile erleiden oder im Fokus von Hass stehen, ist es daher sinnvoll, von Verfolgung zu sprechen, glaubt Johannes Seibel. "Man muss genau hinschauen und zwischen Diskriminierung, Bedrängnis und tatsächlicher Verfolgung differenzieren", sagt der Experte des Internationalen Katholischen Hilfswerks "missio" in Aachen. Denn es sei durchaus ein Unterschied, wenn es für Christen in einer Gesellschaft aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit nur punktuell Einschränkungen und Schikanen gebe oder es sich schon um ein systematisches Zurückdrängen handele – das sogar staatlich gelenkt sein könne und eine dauerhafte Gefahr für Leib und Leben darstelle.
"Aber es ist eine Tatsache, dass es verfolgte Christen gibt", betont Seibel vehement, denn aufgrund der von "missio" gemachten Differenzierung sehe er sich öfters dem Vorwurf ausgesetzt, das Leid der christlichen Opfer nicht anzuerkennen. Eine pauschale Verwendung des Begriffs Verfolgung stehe jedoch dem Ziel entgegen, den Christen in ihrer schwierigen Situation zu helfen, sagt Seibel. Eine zu große Polarisierung könne ihre gesellschaftliche Position sogar noch weiter verschlechtern, da sie die Fronten zwischen den Konfliktparteien verhärte und Leiderfahrungen gegeneinander ausspiele. "Vielmehr muss man zuerst danach fragen, warum es diese Bedrängnis und Verfolgung überhaupt gibt."
Bei genauerer Betrachtung lassen sich drei hauptsächliche Begründungsmuster von Gewalt und Verfolgung gegen Religionen und damit auch gegen das Christentum ausmachen: Zum einen gibt es religiöse Ideologien, die in anderen Religionen Feinde des eigenen Glaubens sehen. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Terrororganisation Islamischer Staat, die aufgrund ihres fundamentalistischen Islamismus Christen im Irak und Syrien verfolgt hat. Zum anderen richten sich in verschiedenen Staaten nationalistische Ideologien aus politischen Gründen gegen bestimmte Religionen. Die Hindu-Nationalisten in Indien etwa sehen im Christentum und im Islam einen Störfaktor für die geforderte religiöse und kulturelle Einheit des Landes. Sie sind ihnen schlicht zu un-indisch. In Myanmar sind es buddhistische Nationalisten, die sich gegen die muslimischen Rohingya und die christlichen Karen wenden. Schließlich werden Religionen meist in kommunistischen Ländern als Konkurrenz zum Staat gesehen. Dabei geht es gar nicht so sehr um die genauen Inhalte des jeweiligen Glaubens, sondern darum, dass Staaten wie China oder Vietnam Angst davor haben, Religionen nicht kontrollieren zu können.
Der Politikwissenschaftler Heiner Bielefeldt macht in diesen Ländern bei der Staatsführung Ängste aus, die in die politische Kultur eingebaut zu sein scheinen: "Der Staat will alles bestimmen und wer sich dieser Kontrolle entzieht, gerät unter Druck", sagt Bielefeldt, der von 2010 bis 2016 UN-Sonderberichterstatter über Religions- und Weltanschauungsfreiheit war. Denn in kommunistischen Staaten erstrecke sich das Parteienmonopol auf das ganze gesellschaftliche Leben. Dabei könne Verfolgung jeden treffen – nicht nur das Christentum als eine von vielen Religionen: "Es geht hierbei eigentlich nicht um den Konflikt Kommunismus versus Christentum, sondern eher um die Auseinandersetzung Einparteienstaat versus unabhängiges Leben."
Nordkorea seit 17 Jahren an der Spitze vom Weltverfolgungsindex
Da nicht allein Religionsgemeinschaften, sondern auch andere Vereinigungen zu Opfern von Hass und Verfolgung werden können, plädiert Bielefeldt dafür, Verletzungen gegen die Religionsfreiheit im Kontext von Verstößen gegen die Menschenrechte zu sehen. Die weltweit zunehmende Nichtbeachtung des Rechts auf Religionsfreiheit sei ein Indikator für den Verfall der Bedeutung von Menschenrechten weltweit. "So sind etwa die USA im vergangenen Jahr aus dem Menschenrechtsrat der UN ausgetreten und auch der Internationale Gerichtshof und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte werden in der Weltpolitik immer weniger beachtet", beklagt Bielefeldt.
Um die Politik zum Handeln gegen Christenverfolgung zu bewegen, erstellt das Hilfswerk Open Doors jedes Jahr eine Übersicht über die Länder, in denen Christen diskriminiert werden oder um ihr Leben fürchten müssen. Die besonders von freikirchlichen und evangelikalen Gruppen und Gemeinden unterstützte Organisation nennt dabei auch genaue Zahlen, die systematisch erstellt werden. "Der Weltverfolgungsindex ist das weltweit einzige Ranking zum Thema Christenverfolgung – mit einem umfangreichen Bericht von 550 Seiten, zur Methodik gibt es einen Bericht von etwa 60 Seiten", sagt Markus Rode, der Leiter von Open Doors Deutschland. Aktuell umfasst das Ranking 50 Staaten und wird von Somalia und Afghanistan mit Nordkorea an der Spitze angeführt. Das kommunistische Land belegt diesen Platz bereits seit 17 Jahren.
Die Rangliste steht jedes Jahr erneut in der Kritik: Open Doors wird vorgeworfen, undifferenziert mit dem Wort Verfolgung umzugehen. Doch Rode weist die Einwände zurück: "Für den Begriff Christenverfolgung gibt es keine allgemeingültige Definition. Es gibt verschiedene Stufen, aber zwischen ihnen keine genaue Unterscheidung." Die verfolgten Christen bräuchten Schutz und Hilfe, keinen Streit um Definitionen. Verfolgung werde immer subjektiv wahrgenommen, weshalb Open Doors in engem Kontakt zu den Betroffenen stehe und diese selbst frage, was sie als Verfolgung bezeichnen. Zudem macht Rode die Kritik auch am Thema des Weltverfolgungsindexes fest: "Es gibt viele weitere Rankings, wie der Index zur Pressefreiheit, die einfacher gemacht sind, aber weniger Kritik hervorrufen."
Bei "missio" ist man mit dem Nennen von konkreten Zahlen und der Erstellung eines Verfolgungsrankings vorsichtiger. "Das öffentliche Bedürfnis danach ist nachvollziehbar", gibt Seibel zwar zu. Aber er glaubt nicht, dass eine Rangliste zu einer Verbesserung der schwierigen Situation von bedrängten und verfolgten Christen beiträgt. Als Beispiel nennt er die Konflikte zwischen muslimischen Nomaden und christlichen sesshaften Völkern in Nigeria. "Man kann das als einen Religionskrieg verstehen, aber auch als gewaltsame Auseinandersetzung um Land und wirtschaftliche Güter." Eine differenzierte Sprache sei hierbei angebracht, die er im Weltverfolgungsindex jedoch vermisst.
"Verfolgten Christen ermöglichen, ihren Glauben zu leben"
Zudem irritiert Seibel, dass sich auf dem Ranking auch Länder befinden, die christlich geprägt sind, wie Mexiko oder Russland. In der Erklärung zum Index werden die organisierte Drogenkriminalität und eine säkulare Intoleranz gegenüber Christen als Begründungen für die Aufnahme Mexikos angeführt. So würden etwa die Bemühungen für den Lebensschutz gesellschaftlich kritisiert und sanktioniert. Dabei geht es zwar nicht um genuin christliche Positionen, doch man könne sagen, dass die Leidtragenden "diese Probleme nicht hätten, wenn sie keine Christen wären", so Rode – und fügt hinzu: "Selbst in Deutschland gibt es Christenverfolgung, besonders in Form von Gewalt gegen konvertierte Muslime."
Solche Aussagen lehnt Seibel ab. Er sieht die Gefahr, dass das Wort Christenverfolgung, trotz noch so guter Absichten, zu einem Kampfbegriff der Identitätsdebatte werden könnte, die derzeit auf dem Feld der Innenpolitik geführt wird. "Der Begriff droht zu polarisieren", sagt er und warnt davor, damit auch islamistischen Terroristen in die Hände zu spielen, für die eine solche Zuspitzung "die beste Werbung" sei. Viel wichtiger seien der Abbau von Vorurteilen und der Dialog zwischen den Religionen. Nur so und durch tatkräftige Hilfe für die bedrängten und verfolgten Gläubigen vor Ort sei eine Bekämpfung der Christenverfolgung möglich. "Unser oberstes Ziel ist schließlich, verfolgten Christen zu ermöglichen, ihren Glauben leben zu können." Ein Satz, der – trotz der unterschiedlichen Herangehensweise – wohl auch in einem Dokument von Open Doors stehen könnte.