Beim "synodalen Weg" soll es ein Forum "Sexualmoral" geben

Die Kirche und der Sex: Große Kluft zwischen Lehre und Leben

Veröffentlicht am 16.09.2019 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ "Die Moralverkündigung gibt der überwiegenden Mehrheit der Getauften keine Orientierung", so Kardinal Marx. Beim geplanten Reformdialog in der Kirche soll daher auch die katholische Sexualmoral auf den Prüfstand kommen.

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Wohl nirgends klaffen Lebenswirklichkeit und kirchliche Lehre so weit auseinander wie beim Thema Sex. Zumindest in westlichen Gesellschaften. Ob vorehelicher Geschlechtsverkehr, der Gebrauch von Kondomen oder Sex zwischen Menschen gleichen Geschlechts: All das gilt in der katholischen Kirche als sündhaft oder wider die menschliche Natur. Im 2010 erschienenen Jugendkatechismus "Youcat" etwa heißt es über Homosexualität, die Kirche nehme Menschen mit entsprechenden Empfindungen "vorbehaltlos an". Schwule und Lesben dürften nicht diskriminiert werden. "Gleichzeitig sagt die Kirche von allen Formen gleichgeschlechtlicher sexueller Begegnung, dass sie nicht der Schöpfungsordnung entsprechen."

Für den Mainzer Moraltheologen Stephan Goertz verbirgt sich hinter solchen Aussagen ein grundsätzliches Dilemma. "Das Fatale ist, dass die in der Vergangenheit eingeschärften Verbote zum Kern katholischer Identität erklärt worden sind", sagt der Zweite Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Moraltheologie. Reformen sind daher schwierig. Gleichzeitig verlor die Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund des sozialen Wandels in Europa und Nordamerika an moralischer Autorität. Seit dem Bekanntwerden zahlreicher Missbrauchsfälle wird zudem die Frage gestellt, ob die Tabuisierung von Homosexualität ein ausschlaggebender Faktor für die Taten war.

Wachsende Kluft zwischen Wissenschaft und Lehramt

Darüber hinaus konstatiert Goertz eine wachsende Kluft zwischen der Theologie als Wissenschaft und dem kirchlichen Lehramt. Häufig fehle beim Lehramt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem moraltheologischen Denken der jüngeren Vergangenheit. "Von den Gläubigen wurde Unterwerfung erwartet." Doch wer abweichende Erkenntnisse nicht an sich heranlasse, "der schottet sich mehr und mehr von der Wirklichkeit ab".

Stephan Goertz im Porträt
Bild: ©Maja Goertz

Stephan Goertz ist Professor für Moraltheologie an der Universität Mainz.

Dass die Kirche den Anschluss an die Gesellschaft zu verlieren droht, meinen offenbar auch manche Bischöfe in Deutschland. Bei dem von ihnen geplanten Dialog zur Zukunft der Kirche, dem "synodalen Weg", soll es deswegen auch ein Forum "Sexualmoral" geben. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, stellte fest: "Wir spüren, wie oft wir nicht sprachfähig sind in den Fragen an das heutige Sexualverhalten." Ein über Jahrhunderte gewachsenes Geflecht aus Philosophie, Theologie und lehramtlichen Äußerungen steht zur Disposition. Die antiken Stoiker, der Apostel Paulus, Kirchenvater Augustinus oder der mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin verbanden mit Sexualität in erster Linie negative Aspekte wie Kontrollverlust oder Ausschweifung – mit einer Ausnahme: der Zeugung eines Kindes im Rahmen der Ehe zwischen Mann und Frau.

Sexualität bleibt mit Tabus und Verboten behaftet

Die Deutungshoheit über die Sexualität im Namen der göttlichen Schöpfungsordnung hatte langfristig unter anderem zwei Folgen: Sie stabilisierte die Rechtsordnung, indem sie zum Beispiel illegitime Nachkommen von der Erbfolge ausschloss – und gab der Kirche ein wirksames Instrument der Sozialdisziplinierung in die Hand. Ziel war, relativ stabile familiäre Verhältnisse in christlich geprägten Ländern zu erlangen. Mit der sexuellen Revolution rückte aber ab den 1960er Jahren die Selbstverwirklichung in den Mittelpunkt, seither herrscht auf diesem Feld Unübersichtlichkeit. Viele Katholiken in Deutschland können mit der Sexualmoral ihrer Kirche kaum mehr etwas anfangen – und die meisten wissen auch kaum etwas darüber. In anderen Weltgegenden sieht dies anders aus. Wer beispielsweise in Afrika nach dem Umgang mit Schwulen und Lesben fragt, erhält mitunter die Antwort: "So etwas gibt es bei uns nicht."

Sexualität bleibt – nicht nur in Afrika – mit Tabus und Verboten behaftet. Goertz hofft auf einen grundlegenden Sinneswandel in Sachen Glaube und Liebe: "Die Frage an die lehramtliche Position lautet, ob zwei Menschen sich nicht auch jenseits der Ehe auf eine menschlich authentische, freie und respektvolle Weise lieben können." Hier müsse sich etwas ändern, meint auch Caritas-Präsident Peter Neher. Für ihn hat die Frage, wie sich Kirche künftig in Sachen Sexualmoral präsentiert, "direkte Auswirkungen auch auf die soziale Arbeit der Caritas, sei es etwa in der Schwangerenberatung oder in der Jugendhilfe".

Von Joachim Heinz (KNA)

Themenseite: Der "synodale Weg" der Kirche in Deutschland

Wie geht es nach dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche in Deutschland weiter? Bei der Frühjahrs-Vollversammlung 2019 in Lingen beschlossen die deutschen Bischöfe einen "synodalen Weg". Gemeinsam mit allen Gläubigen wollen sie Reformen anstoßen. Die Themen: Machtmissbrauch, Sexualmoral, Zölibat und die Rolle der Frau.