Organspende – Akt der Nächstenliebe oder staatlich verordnete Pflicht?
Es sind zwei Zahlen, die das ganze Dilemma deutlich machen: Rund 9.500 Menschen in Deutschland standen im vergangenen Jahr auf der Warteliste für ein Spenderorgan, im selben Zeitraum spendeten aber nur 955 Menschen nach dem Tod ihre Organe. Zwar stieg die Zahl der Organspenden in der Bundesrepublik damit im Vergleich zu 2017 um rund 20 Prozent an, die Lücke zwischen Bedarf und Angebot blieb aber groß – für viele Betroffene zu groß.
Bereits seit vielen Jahren liegt Deutschland bei den Organspenden im europäischen Vergleich weit abgeschlagen auf dem letzten Platz. Während etwa in Spanien – lange schon der Spitzenreiter in Europa – 2017 auf eine Million Einwohner fast 47 Organspender kamen, waren es im selben Zeitraum in der Bundesrepublik nur knapp 10. Auch in allen direkten Nachbarländern Deutschlands lag die Zahl der Organspenden in den vergangenen Jahren immer höher als im einwohnerstärksten Land des Kontinents.
Politik will tödlichen Magel beheben
Die deutsche Politik will diesen für viele Patienten tödlichen Mangel nun jedoch mit Nachdruck beheben. Eine erste Initiative in diese Richtung war im Frühjahr die Änderung des geltenden Transplantationsgesetzes. Durch eine Reform der Strukturen und eine bessere Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure bei der Organspende, so die Hoffnung des Gesetzgebers, sollte die Zahl der Spenden in Deutschland spürbar erhöht werden. Doch einigen Politikern und Gesundheitsexperten reichte dieser Ansatz nicht aus. Bereits kurz nach der Reform kamen deshalb Forderungen nach einem grundsätzlichen Systemwechsel auf. Das Ziel dabei: Die Bürger sollen stärker als bisher verpflichtet werden, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und ihre persönliche Position – Organspende ja oder nein – nachvollziehbar zu dokumentieren.
Linktipp: Ohne Bewusstsein
In Sachen Organspenden ist Deutschland im internationalen Vergleich eine Art Entwicklungsland. Aber offenbar liegt das nicht nur an einer Spendenunwilligkeit der Deutschen.Ergebnis dieser Debatte sind zwei fraktionsübergreifende Gesetzentwürfe sowie ein Antrag der AfD-Fraktion, die Ende Juni erstmals im Bundestag diskutiert wurden und nun auf der Tagesordnung des Parlamentsausschusses für Gesundheit stehen.
Im Kern geht es um die Frage, wie die Zahl der Organspenden in Deutschland signifikant erhöht werden kann. Die derzeit geltende "erweiterte Zustimmungslösung" ist nach Auffassung der Initiatoren beider Entwürfe dafür nämlich nicht geeignet. Sie besagt, dass Organe nur dann entnommen werden dürfen, wenn der Verstorbene zu Lebzeiten einer Entnahme ausdrücklich zugestimmt hat – etwa in Form eines Organspendeausweises oder einer Patientenverfügung. Liegt keine entsprechende Zustimmung vor, sind laut Gesetz auch die Angehörigen oder vom Verstorbenen dazu bestimmte Personen berechtigt, auf Basis des ihnen bekannten oder des mutmaßlichen Willens des Verstorbenen über eine Organentnahme zu entscheiden. Die Kritiker dieser Regelung bemängeln, dass einer möglichen Organspende dadurch zu enge Grenzen gesetzt würden.
Widerspruchslösung als neues Modell?
Eine Gruppe um Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach setzt sich mit ihrem Gesetzentwurf deshalb für eine "doppelte Widerspruchslösung" ein. Das Prinzip dabei: Hat ein Verstorbener zu Lebzeiten einer Organentnahme nicht ausdrücklich widersprochen, können die Organe zur Transplantation entnommen werden. Angehörige haben bei dieser Lösung kein eigenes Mitbestimmungsrecht; sie können eine Organentnahme nur dann verhindern, wenn sie glaubhaft machen können, dass die Entnahme nicht dem letzten Willen des Verstorbenen entspricht.
Der zweite Gesetzentwurf firmiert dagegen unter dem Namen "Entscheidungslösung" und kommt weniger radikal daher. Der Entwurf von einer Gruppe um die Vorsitzende der Grünen, Annalena Baerbock, und die Linken-Chefin Katja-Kipping möchte erreichen, dass die Organspende weiter eine freiwillige und bewusste Entscheidung bleibt. Die Bürger sollen künftig etwa bei der Verlängerung ihrer Ausweise nach ihrer Bereitschaft zur Organspende befragt werden. Hausärzten wird zudem die Aufgabe zugeteilt, ihre Patienten mindestens alle zwei Jahre über eine mögliche Spende zu beraten. Die Antworten sollen dann in einer zentralen Datenbank registriert werden.
Welcher der beiden Gesetzentwürfe am Ende des parlamentarischen Verfahrens eine Mehrheit im Bundestag finden wird, ist noch nicht absehbar. In der laufenden Diskussion wird aber vor allem über die weitaus radikalere Widerspruchslösung diskutiert. Deren Befürworter argumentieren, dass durch sie der Kreis potenzieller Spender sofort deutlich erhöht würde. Das zeige sich zum Beispiel auch in Ländern wie Spanien, in denen die Widerspruchslösung bereits gelte.
Kritiker bezweifeln diesen Zusammenhang jedoch: Spanien etwa habe bereits 1979 die Widerspruchslösung eingeführt – ohne Ergebnis. Erst Maßnahmen der Vertrauensbildung und der Einbeziehung der Angehörigen hätten dort für die hohen Spenderzahlen gesorgt. Die Kritiker halten die Widerspruchslösung zudem für kontraproduktiv, weil sie das Misstrauen in die Transplantationsmedizin noch erhöhen könnte. Sie verweisen darauf, dass in Deutschland eigentlich auch kleinste medizinische Eingriffe der Zustimmung des Patienten bedürfen. Der Spahn-Lauterbach-Entwurf käme damit einem Paradigmenwechsel gleich.
„Es besteht keine moralische Pflicht, seine Organe posthum zu spenden.“
Auch für die katholische Kirche in Deutschland ist die Widerspruchslösung nicht akzeptabel: Nach ihrer Ansicht muss die Organspende eine bewusste und freiwillige Entscheidung bleiben. Das Kommissariat der deutschen Bischöfe und der Bevollmächtigte der evangelischen Kirche sprechen in ihrer gemeinsamen Stellungnahme für den Gesundheitsausschuss mit Blick auf die Widerspruchslösung von "erheblichen rechtlichen und ethischen Bedenken". Die Organspende als "Akt der Nächstenliebe und Solidarität über den Tod hinaus" solle weiterhin von einer freiwilligen Entscheidung getragen sein.
Kirchen: Keine moralische Pflicht zur Organspende
"Es gibt aus christlicher Sicht sehr überzeugende Gründe, die eigenen Organe anderen Menschen zur Verfügung zu stellen – etwa die Dankbarkeit für das eigene Leben", so die beiden großen Kirchen in ihrem Papier. Aber auch als Akt von hohem moralischem Wert könne eine Spende nicht erzwungen werden: "Es besteht keine moralische Pflicht, seine Organe posthum zu spenden. Eine rechtliche Pflicht kann es aus diesem Grund erst recht nicht geben." Aus der grundsätzlich positiven Haltung der Bevölkerung zur Organspende lasse sich keine pauschale Spendenbereitschaft aller Menschen und erst recht keine generelle Zustimmung zur Organentnahme schließen.
Unterstützung findet bei den Kirchen deshalb die Entscheidungslösung. Die in dem Gesetzentwurf vorgeschlagenen "Modifikationen im bestehenden System" seien geeignet, das Vertrauen in die Organspende zu erhöhen und Menschen zu befähigen, eine informierte Entscheidung zu treffen.
Ähnlich äußerte sich vor wenigen Tagen auch der Rottenburger Bischof Gebhard Fürst. In einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) sagte der Vorsitzende der Unterkommission Bioethik der Deutschen Bischofskonferenz, dass die Kirche den Entwurf zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft für den "ethisch besten" Vorschlag halte. "Er setzt darauf, dass sich die Menschen proaktiv mit der Frage der Organspende befassen und dann eine informierte und selbstbestimmte Entscheidung treffen. Dazu bietet er sehr praktische Lösungen an", so Fürst.
Fürst: Freiwilligkeit als unabdingbare Voraussetzung für die Organspende
Die Widerspruchslösung stoße aus Sicht der beiden Kirchen dagegen auf erhebliche Bedenken, weil sie sich vom Charakter einer freiwilligen Spende verabschiede und den Zugriff auf den menschlichen Körper auch ohne Zustimmung erlaube. "Unabdingbare ethische Voraussetzung für die Organspende ist nach unserer Vorstellung, dass der Spender beziehungsweise seine Angehörigen der postmortalen Organentnahme informiert, freiwillig und ausdrücklich zugestimmt haben. Das gebieten die Selbstbestimmung, das Konzept der Patientenautonomie und die Würde des Menschen, die auch über den Tod hinaus von Bedeutung sind", erklärte der Bischof.
Die Haltung der Kirchen in der Frage einer möglichen Gesetzesänderung in Sachen Organspende ist also klar. Bleibt abzuwarten, ob eine Mehrheit des Bundestags ihr bei der voraussichtlich noch in diesem Jahr stattfindenden Abstimmung über die Gesetzentwürfe folgen wird.