Missbrauchsverdacht: Wie viel kirchliche "Transparenz" ist sinnvoll?
Nach der Veröffentlichung der sogenannten MHG-Studie hat die Deutsche Bischofskonferenz noch mehr Transparenz im Umgang mit Missbrauch versprochen. Papst Franziskus droht Bischöfen mit seinem Schreiben "Ihr seid das Licht der Welt" sogar schwere kirchliche Strafen bis hin zum Amtsverlust an, sollten sie Missbrauchsfälle vertuschen. Wenig im Blick ist derzeit aber die Frage, wie ein des Missbrauchs beschuldigter Kleriker darauf vertrauen soll, dass auch mit ihm gerecht umgegangen wird. Die Bischofskonferenz hat sich zwar für solche Fälle Leitlinien gegeben und auch das Gesetzbuch der lateinischen Kirche, der Codex Iuris Canoici (CIC), enthält entsprechende Normen. Oft werden diese Vorgaben aber nicht (richtig) beachtet.
1. Schädigung des guten Rufes
Sehr oft läuft es so: Wenn dem Bischof eine angebliche sexuelle Belästigung oder ein Übergriff durch einen Priester gemeldet wird, dauert es nur wenige Tage, bis das Bistum den Klarnamen des Beschuldigten sowie den Tatvorwurf öffentlich bekannt gibt. Der Beschuldigte wird zudem mit sofortiger Wirkung von allen seinen Ämtern beurlaubt. Schon dieser Begriff "beurlauben" ist kirchenrechtlich völlig unklar: Darf das Amt als Pfarrer nicht mehr ausgeübt werden? Dürfen überhaupt keine priesterlichen Funktionen mehr ausgeübt werden? Oder, wenn ja, eventuell nur hinter verschlossenen Türen? Zudem wird eine solche Entscheidung oft nur mündlich mitgeteilt, ohne Zeugen. Es gibt kein Dekret, das man anfechten könnte. Rechtsmittel sind somit ausgeschlossen. Und im Zweifelsfall kann sich ein Bischof immer auf ein Missverständnis berufen. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz sehen anders aus.
Die Leitlinien der Bischofskonferenz sehen für den Fall einer Anzeige vor, dass die Missbrauchsbeauftragten eine "erste Bewertung der Hinweise auf ihre Plausibilität" und "auf das weitere Vorgehen" vornehmen (Nr. 10). Dann sind Gespräche mit dem mutmaßlichen Opfer sowie der beschuldigten Person vorgeschriebenen, um zu klären, ob tatsächliche Anhaltspunkte für eine sexualbezogene Straftat vorliegen (Nr. 17-28). Gemäß c. 1728 § 2 CIC und Nr. 24 der Leitlinien besitzt der Beschuldigte das Recht, die Aussage zu verweigern und ist nicht verpflichtet, sich selbst zu belasten. Eine Straftat und eine Schuld müssen bewiesen werden.
Zudem kann der Beschuldigte zu dem vorgeschriebenen Gespräch eine Person seines Vertrauens beiziehen. Erfahrungsgemäß wird seitens einer Diözese mitunter ein starker Druck ausgeübt, sich selbst zu bezichtigen und so "sein Gewissen zu entlasten" – Gewissensentlastung findet aber im Beichtstuhl statt. Zudem geschieht es nicht selten, dass die Beiziehung eines kirchenrechtlichen Anwalts verweigert wird.
Nr. 28 der Leitlinien betont: "Auch der beschuldigten Person gegenüber besteht die Pflicht zur Fürsorge. Sie steht … bis zum Erweis des Gegenteils unter Unschuldsvermutung." Wenn vorher aber schon der Klarname samt dem allgemeinen Tatvorwurf "sexueller Missbrauch" veröffentlicht wurde, kann jeder seiner Phantasie freien Lauf lassen. Vor allem gibt es aber keine Unschuldsvermutung mehr: In diesem Fall verstößt der zuständige Diözesanbischof einerseits schwerwiegend gegen c. 220 CIC, der in Form eines Grundrechts den guten Ruf der Gläubigen schützt, und andererseits gegen c. 1717 § 2 CIC, wo normiert wird: "Es muss vorgebeugt werden, dass nicht aufgrund dieser Voruntersuchung jemandes guter Ruf in Gefahr gerät." Dem Bischof werden mit c. 1717 § 1 "vorsichtige Erkundigungen über den Tatbestand" vorgeschrieben – das hat nichts mit Vertuschung oder Mauschelei zu tun, sondern dient dem Schutz der Opfer und der Beschuldigten. Oft herrscht hier aber eine falsch verstandene Transparenz vor.
2. Staatsanwaltschaftliche und kirchenrechtliche Ermittlungen
Die kirchenrechtliche Voruntersuchung ist der nächste Schritt. Sie ist am besten mit staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zu vergleichen, in denen es darum geht, zu klären: Was ist tatsächlich, also nachweisbar, geschehen? Wurde ein gesetzlich umschriebener Straftatbestand verwirklicht? Wer ist der Täter – und wer ist das Opfer? Zuerst wird die staatsanwaltschaftliche Ermittlung durchgeführt (Nr. 29-31), anschließend die kirchenrechtliche Voruntersuchung, die in c. 1717 CIC geregelt ist. Dabei ist zu beachten, dass die fraglichen Straftatbestände im staatlichen und im kirchlichen Recht unterschiedlich definiert sind. Es gelten auch verschiedene Altersgrenzen und Verjährungsfristen. Grundsätzlich gilt, dass ein Staatsanwalt keine kirchenrechtlichen Straftatbestände ermitteln und bewerten kann. Umgekehrt gilt das gleiche. Deswegen sind zwei getrennte Voruntersuchungen erforderlich.
Wenn diese beiden Voruntersuchungen zum Ergebnis kommen, dass keine Straftat vorliegt, dann ist das gegen den Beschuldigten eingeleitete Strafverfahren beendet. Die notwendige Folge einer solchen Feststellung ist in Nr. 41 und 42 der Leitlinien geregelt: "Erweist sich eine Beschuldigung oder ein Verdacht als unbegründet, ist dies durch den Ordinarius im Abschlussdekret der kirchenrechtlichen Voruntersuchung festzuhalten. … Es ist Aufgabe des Ordinarius, den guten Ruf einer fälschlich beschuldigten oder verdächtigten Person durch geeignete Maßnahmen wiederherzustellen (vgl. c. 1717 § 2 CIC bzw. c. 220 CIC). Eigentlich sollte ein Bischof dann wissen, was er zu tun hat: Den Beschuldigten rehabilitieren.
3. Vorgehen nach eigenem Gutdünken
Mitunter geschieht aber das Gegenteil. Von Seiten eines Bistums wird trotzdem daran festgehalten, dass schwere Vergehen vorliegen. Jedes weitere Vorgehen gegen den beschuldigten Priester wird so gerechtfertigt: Amtsenthebung, Gehaltskürzung, dauernde Ruhestandsversetzung, Aufenthaltsverbot. Ein (kirchenrechtlicher) Anwalt ist in so einem Fall handlungsunfähig, denn das Aufrechterhalten eines solchen Vorwurfs ist nicht auf gesetzlich normierte Straftatbestände und nicht auf bewiesene Tatsachen gestützt. Auch ein geregeltes rechtliches Verfahren, bei dem man einhaken könnte, wird nicht eingehalten. Der Rechtsschutz des Betroffenen und sein Verteidigungsrecht werden auf diese Weise absolut behindert.
4. Beeinträchtigung des Verteidigungsrechts
Im Rahmen des kirchlichen Prozessrechts wird das Verteidigungsrecht des Beschuldigten so hoch angesiedelt, dass eine Verweigerung zur unheilbaren Nichtigkeit eines Urteils führt (vgl. cc. 1598 § 1, 1620 Nr. 7 und 1720 Nr. 1 CIC). In diesem Zusammenhang muss auch an das Grundrecht gemäß c. 221 CIC erinnert werden, wonach jeder Gläubige das Recht hat, seine Rechte vor der zuständigen kirchlichen Behörde zu verteidigen. Die Gläubigen haben im Fall eines kirchlichen Strafprozesses das Recht auf ein Urteil nach Recht und Billigkeit. Strafen können über sie nur nach Maßgabe des Rechts verhängt werden; es muss also tatsächlich eine gesetzlich genau umschriebene Straftat vorliegen und diese muss von Rechts wegen entsprechend sanktioniert, also mit konkreten Straffolgen bedroht werden.
Das Verteidigungsrecht wird auch dann behindert, wenn der Beschuldigte sich nicht öffentlich zu dem gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren oder zu den verhängten Maßnahmen äußern darf. Vor allem dann, wenn die Presse zu Beginn des Verfahrens ohne Not vom Bistum selbst und zulasten des Beschuldigten auf den Plan gerufen wurde.
5. Vorbeugende Maßnahmen
Das kirchliche Prozessrecht eröffnet dem Bischof mit c. 1722 CIC die Möglichkeit, bei Bedarf vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen, die der Vermeidung von Ärgernissen, dem Schutz der Freiheit der Zeugen und der Sicherung des Laufs der Gerechtigkeit dienen. Solche Maßnahmen können gemäß Nr. 36 der Leitlinien erst mit der Eröffnung der kirchenrechtlichen Voruntersuchung verhängt werden. Bevor solche Maßnahmen verhängt werden, müssen sowohl der Kirchenanwalt als auch der Beschuldigte angehört werden; ohne diese Anhörungen sind sie unrechtmäßig.
Die mögliche Gefährdung und die entsprechende vorbeugende Maßnahme müssen dann in einem Verhältnis zueinander stehen. Wenn etwa die Gefahr besteht, dass sich ein Priester weiter an Kindern und Jugendlichen vergreift, dann ist es sinnvoll und notwendig, ihm ab sofort jeden Kontakt mit Kindern und Jugendlichen zu verbieten. Ob allerdings ein Zelebrationsverbot, was gerne und beinahe generell verhängt wird, hier Abhilfe schaffen und Kinder und Jugendliche schützen kann?
Die Praxis, die mit solchen vorbeugenden Maßnahmen geübt wird, sieht meist ganz anders aus, als es der Gesetzgeber vorsieht: Sie werden in der Regel bereits vor der Prüfung der Anschuldigungen verhängt; weder der Kirchenanwalt noch der Beschuldigte werden vorher angehört; Maßnahme und Gefährdungslage stehen oft in kaum einem Verhältnis. Für manche Bischöfe scheinen solche vorbeugenden Maßnahmen eher eine Art vorgezogene Strafe zu sein, die nach eigenem Gutdünken verhängt wird.
Ein zweiter Aspekt solcher Sicherungsmaßnahmen wird in den meisten Fällen ignoriert. So regelt c. 1722 ganz klar: "Alle diese Maßnahmen sind bei Wegfall des Grundes aufzuheben, und sie sind von Rechts wegen mit der Beendigung des Strafprozesses hinfällig." In vielen Fällen dauern solche Maßnahmen aber – gegen jedes Recht – auch Jahre nach Beendigung des Strafprozesses noch an.
6. Fazit
Wer nach der Missbrauchskrise Vertrauen schaffen will, tut sehr gut daran, insbesondere im Fall von Missbrauchsvorwürfen rechtlich geordnete Verfahren genau zu beachten mit dem Ziel, aufzuklären und Gerechtigkeit zu schaffen. Wenn ein Straftäter überführt wird, dann muss er nach Maßgabe des staatlichen und kirchlichen Rechts bestraft werden. Wenn sich ein Tatvorwurf bei intensiver Prüfung nicht erhärten lässt, muss der Beschuldigte rehabilitiert und sein guter Ruf wiederhergestellt werden. Jedes andere Vorgehen, zumal ein solches, das grundlegende Rechte von Personen beschädigt, erweckt den Verdacht der Willkür und der missbräuchlichen Machtausübung. Und es ist genau dieser Verdacht, der massiv zur Zerstörung des Vertrauens in der Kirche beiträgt.