Erntedank: Mehr als eine nostalgische Feier
Eine ausladende Erntekrone, prächtiger Altarschmuck und allerhand Gemüse oder Früchte: All das gehört zu einem richtigen Erntedankgottesdienst dazu. Es ist wichtig, das vor Augen zu haben, für das man an diesem Tag besonders danken will. Wenn die Früchte der Erde und der menschlichen Arbeit in die Kirche gebracht werden, ist das ein tieferes Zeichen: Alles wird Gottes Güte anvertraut, für all dies erflehen wir seinen Segen. Erntedank ist vielerorts eines der wichtigsten Feste im Kirchenjahr. Mit großer Mühe wird die Kirche zu diesem Tag geschmückt, in manchen Ortschaften gibt es sogar einen großen Erntedankumzug. Es ist ein Fest, das viele Menschen begeistert und an dem vor allem die Kinder ihren Spaß haben, wenn sie ihren Gabenkorb schmücken und vor den Altar bringen können.
Doch bei dieser großen Mühe, die man sich vielerorts um den Erntedanktag macht, bleiben auch Fragen. Denn gerade in unserer postmodernen Gesellschaft scheint doch ein Fest, wie Erntedank, aus der Zeit gefallen zu sein. Früher markierte der Tag das Ende der Erntezeit und den Beginn des Herbstes. Die Arbeit auf dem Feld war erledigt und die Menschen zogen sich langsam wieder in die Häuser zurück. Heute wird in einem anderen Rhythmus gelebt: Die Wenigsten betreiben noch aktiv Landwirtschaft. Was man zum Leben braucht, kann man Sommer wie Winter im Supermarkt kaufen. Erntedank erscheint als nostalgisches Fest, dessen Feiergehalt eigentlich für den modernen Menschen schon lange keinen Grund mehr zum Feiern darstellt. In vergangenen Zeiten hatte man einen wirklichen Anlass, Dank zu sagen: Wovon man sich im Winterhalbjahr ernähren wollte, das musste man den Sommer über ernten. Und wenn das, was die Natur hergab, eben nicht besonders üppig ausfiel, stand ein hartes Winterhalbjahr bevor, in dem man sich die wenige Nahrung gut einteilen musste. Erntedank war wirklich ein Fest, um Dank zu sagen für die Gaben der Schöpfung. Wie wichtig diese Gaben waren, das wussten die Altvorderen noch.
Trotz geringer Ernte sind die Regale im Supermarkt prall gefüllt
Diese Tage sind in unseren Breiten längst gezählt. Die allermeisten Menschen sind nicht mehr auf das angewiesen, was sie in ihrem Garten oder auf ihren Feldern geerntet haben. Die Wenigsten pflegen noch einen Obst- oder Gemüseanbau. Wer heutzutage Nahrung braucht, der findet sie in den Regalen der Supermärkte zuhauf. Ganzjährig gibt es dort alles zu kaufen, was das Herz begehrt: Ob Tomaten, Erdbeeren oder Gurken, alles ist sogar im tiefsten Winter erhältlich. Die Frage nach einem ertragreichen Sommer stellt sich nicht mehr. Denn auch wenn die Ernte einmal nicht so gut ausgefallen ist, wie in den jüngsten heißen und trockenen Sommern: Die Produktregale sind dennoch prall gefüllt, denn notfalls werden die Waren aus den entlegensten Ländern eingeflogen. Die Welt ist ein Dorf geworden. Wahrscheinlich zum Wohl des Verbrauchers und zu Ungunsten derer, die für einen überschaubaren Lohn ihrer Hände Arbeit hinaus in die weite Welt verkaufen.
Gibt es da überhaupt noch einen Grund, um Dank zu sagen? Wird Erntedank da nicht zum rein nostalgischen Fest, das an eine längst vergangene Zeit erinnert und sie leicht verklärend ins rechte Licht rückt? Freilich, wenn Erntedank nur mit dem in Verbindung gebracht wird, was man selbst in den zurückliegenden Monaten im eigenen Garten angebaut und geerntet hat, dann wird das Fest nicht den heutigen Dimensionen gerecht. Es gilt, an Erntedank mehr in den Blick zu nehmen und weiter zu schauen, als nur in den eigenen Gärten und auf die eigenen Felder. Unser Leben ist global geworden. Und das gilt es an diesem Fest auch zu würdigen.
Schon das Volk Israel sagt Dank für eingebrachte Gaben
Dank zu sagen für all das, was Menschen von der Schöpfung als Gaben empfangen haben, ist ein Grundanliegen des Glaubens. Schon das Volk Israel kennt ein solches Herbstfest, an dem es sich der eingebrachten Gaben erfreut: Es ist das Laubhüttenfest, Sukkot, das bis heute im Judentum gefeiert wird. Die Anweisung zu diesem Fest, die sich im Buch Deuteronomium findet, ist ziemlich ausdrücklich: "Wenn dich der Herr, dein Gott, in allem gesegnet hat, in deiner Ernte und in der Arbeit deiner Hände, dann sollst du wirklich fröhlich sein." (Dtn 16,15) Danksagung und Fröhlichkeit gehören an diesem Fest eng zusammen. Angesichts der Ernte, die eingebracht wurde, muss Gott Dank gesagt werden – und man darf sich freuen, dass man wieder einmal so reich mit den Gaben der Schöpfung beschenkt worden ist. Freude und Dank sind die beiden Grundpfeiler des Sukkot-Festes, an dem das Volk Israel seit alter Zeit die Schöpfungsgaben vor das Angesicht Gottes trägt.
Eine moderne Interpretation des Erntedank-Festes entfernt sich von einer rein nostalgischen Feier. An diesem Tag ist es wichtig, nicht nur die heimischen Erntegaben vor den Altar zu stellen, sondern so vieles mehr, was Menschen tagtäglich im Supermarkt einkaufen können. Wir dürfen an Erntedank nicht nur für die Ernte hier in unserem Land danken. Vielmehr ist es wichtig, die ganze Welt in den Blick zu nehmen, aus der die Gaben kommen, die tagtäglich konsumiert werden. Dank sagen nicht nur für Kürbis, Kartoffel, Apfel und Kohl; Dank sagen ebenso für Bananen aus Israel, für Tomaten aus Spanien, für Spargel aus Peru. Aber auch Dank für Produkte, die auf den ersten Blick überhaupt nicht zum Erntedankfest passen wollen: Kartoffelchips, Schokolade, Bier und so vieles mehr, was regelmäßig im Einkaufswagen landet. All das gibt es nur, weil die Schöpfung mit ihren Gaben nicht geizt und weil es Menschen gibt, die mit ihrer Hände Arbeit dafür sorgen, dass Industrieanlagen tonnenweise Schoko-Riegel produzieren oder aus Gerste, Hopfen und Wasser literweise Bier gebraut wird.
Erntedank will Menschen Jahr für Jahr daran erinnern, dass alles, wovon wir leben, keine Selbstverständlichkeit ist. Hinter all dem, was oft so schnell und achtlos konsumiert wird, stehen Menschen, die durch ihre alltägliche Arbeit dafür sorgen, dass genügend Nahrung hergestellt wird. Und oft genug haben eben diese Menschen nicht einmal das nötigste, das sie zum Leben brauchen – auch daran müssen wir am Erntedankfest denken. Alle Gaben sind Gaben der Schöpfung, sind Gottes Gaben, die er uns Menschen anvertraut. Der Mensch soll sich, so erzählt der Schöpfungsbericht der Genesis, die Erde untertan machen, sie bebauen und pflegen. Dazu gehört aber auch ein sorgsamer Umgang mit dieser Schöpfung. Gerade die aktuellen Diskussionen um das Klima zeigen: Jeder und jede ist aufgerufen, sich für einen derartigen Umgang mit der Erde einzusetzen, sich zu engagieren, dass Ressourcen schonend gebraucht werden und nachhaltig gewirtschaftet wird. Die Feier von Erntedank ermahnt zu einem solchen Handeln.
Für Bewahrung der Schöpfung bitten
Erntedank ist kein Fest, das aus der Zeit gefallen ist, wenn wir es recht verstehen und die vielen Bedeutungen entdecken, die sich in dieser Feier verbergen. Es ist vielleicht aktueller denn je, dass man sich wieder einmal ganz bewusst mit den Themen Bewahrung der Schöpfung und Dank für ihre Gaben auseinandersetzt. So vieles wird ganz selbstverständlich hingenommen, weil wir gewohnt sind, die Supermarktregale bis zum Bersten gefüllt zu sehen. Woher aber die Produkte stammen und unter welchen Bedingungen sie angebaut werden, erscheint zweitrangig, solange der Preis stimmt. Christliches Leben gelingt nur unter dem Aspekt der Nächstenliebe. Und diese nötigt auch, sich für das Wohlergehen jener einzusetzen, die sich in der Produktion unserer Nahrung abmühen.
Der kirchliche Festkalender mutet den Gemeinden Jahr für Jahr wieder die Feier von Erntedank zu. Wo früher der Dank für die konkreten Erntegaben aus dem heimischen Garten und von den eigenen Feldern im Vordergrund stand, sind es heute die Bewahrung der Schöpfung, der Klimawandel oder die Erhaltung des Waldes. Doch es ist gut, auch diesen Themen mindestens einmal im Jahr Raum zu geben. Weil schon die Heilige Schrift mahnt, Gottes Gaben fröhlich vor sein Angesicht zu tragen und sich immer neu der Verantwortung bewusst zu werden, die jedem Einzelnen für die Schöpfung angetragen ist.