Kommentar von Pater Klaus Mertes

Die Kirche ist mit Blick auf Entschädigungen keine Solidargemeinschaft

Veröffentlicht am 13.11.2019 um 13:55 Uhr – Lesedauer: 
Mertes während einer Podiumsdiskussion Ende August 2013 in Berlin
Bild: © KNA

Bonn ‐ Ja, die Gläubigen müssten es ertragen, für den Missbrauch in der Kirche in Mithaftung genommen zu werden, sagt Pater Klaus Mertes. Bei den Entschädigungszahlungen höre die Solidargemeinschaft aber auf. Und dafür gebe es Gründe.

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Als Schüler mich in den 90er-Jahren fragten, warum sie heute immer noch in die Mitverantwortung und Mithaftung für Verbrechen der Nationalsozialisten genommen würden, lautete meine Antwort: Nicht nur deswegen, weil wir als Deutsche in einer Verantwortungsgemeinschaft stehen, die durch unsere Zugehörigkeit zum deutschen Volk begründet ist, sondern auch deswegen, weil die Nationalsozialisten nicht einfach so an die Macht gekommen sind, sondern durch Wahlen. Man könne also die Verbrechen der Nationalsozialisten nicht einfach reduzieren auf Verbrechen einzelner Personen und das Wahlverhalten einzelner Wählerinnen und Wähler; vielmehr stehe die ganze bürgerlich-demokratisch verfasste Gesellschaft in einer Mitverantwortung. Ignatz Bubis, der 1999 verstorbene Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, deutscher Staatsbürger und Überlebender des Holocaust, erzählte einmal, dass er sich allein schon deswegen mit seinen Steuergeldern an Wiedergutmachungszahlungen der Bundesrepublik für die Holocaustopfer beteilige, weil er Teil eines Gemeinwesens sei, das eine Mitverantwortung dafür trägt, wer an der Regierung ist.

Als am 28. Januar 2010 die Verbrechen von ehemaligen Jesuiten am Canisius-Kolleg in einer Berliner Zeitung bekannt gemacht wurden, fragten die Schülerinnen und Schüler mich: Warum müssen wir jetzt für Verbrechen büßen, die vor 30 Jahren begangen worden sind? Ich konnte die Frage den Schülerinnen und Schülern dahingehend beantworten, dass zur Aufarbeitung von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt in einer Institution dazugehört, dass die Institution die Last der Stigmatisierung annehmen muss. Das taten die Schülerinnen und Schüler auch (so wie es im Übrigen seit zehn Jahren auch die Katholikinnen und Katholiken in Deutschland solidarisch tun) – sie stellten sich solidarisch zur Schule, zum Schulträger und zum Aufklärungskurs, ertrugen Misstrauen und Hänseleien, wenn sie sich zu ihrer Schule bekannten, und ertragen es, dass bis heute und in absehbare Zukunft hinein die Fassade ihrer Schule in fast jedem Fernsehbericht auftaucht, der das Thema "Katholische Kirche und Missbrauch" zum Thema hat. Eines war uns als Schulträger aber immer klar: Entschädigungszahlungen, die der Orden leistet, dürfen nicht auf Kosten der pädagogischen Qualität des Angebots für die Schülerinnen und Schüler heute gehen. Hier sahen wir die Grenze für die Haftungsgemeinschaft der Schülerinnen und Schüler für das institutionelle Versagen im Umgang mit Verbrechen von Lehrern, die vor 30 Jahren verübt worden waren. Damit war auch eine Grenze gesetzt gegenüber der Höhe der Forderungen, die damals schon an den Schulträger – sprich: den Jesuitenorden – gerichtet wurden.

Nicht in Ordnung, von "Solidargemeinschaft" zu sprechen

Genau aus demselben Grunde ist es aber tatsächlich nicht in Ordnung, von einer "Solidargemeinschaft" der Kirche als ganzer einschließlich der Steuerzahler zu sprechen, wenn es um die Haftung für Verbrechen von Tätern und Leitungsversagen im Umgang mit diesen Tätern durch die kirchliche Obrigkeit geht. Millionen Katholikinnen und Katholiken ertragen seit Jahren solidarisch den immensen Ansehensverlust ihrer Kirche und auch das Fremdschämen für viel zu viele peinliche Ausrutscher und Fehlleistungen bei der Aufarbeitung der letzten zehn Jahre. Aber kein einziger katholischer Laie trägt Verantwortung dafür, wer die Kirche regiert, wer die Bistümer regiert, wer zu Priestern geweiht wird und wer Leitungsfunktionen in der Kirche ausübt. Deswegen liegt hier die Grenze zum Vergleich mit einer Haftungsgemeinschaft für Regierungsfehler in einer demokratischen Gesellschaft, in der die Bürger durch ihr Wahlverhalten und zahlreiche andere Formen der Partizipation Mitverantwortung tragen dafür, wer sie regiert und wie sie regiert werden. Wenn man die Verfassung der Kirche so will, wie sie ist, dann muss man auch bereit sein, die Konsequenz zu tragen – und dann liegt die volle Verantwortung gerade auch für die Haftung beim Klerus, vor allem beim leitenden Klerus. Deswegen ist es nachvollziehbar, wenn die Laien jetzt aufbegehren. Sie haben es satt, in Kollektivhaftung genommen und zur Teilnahme an Bußgottesdiensten aufgefordert zu werden, in denen Bischöfe nach dem Motto "Vestra culpa, vestra culpa, vestra maxima culpa" die Gemeinde zum Schuldbekenntnis auffordern.

Es ist klar: Wenn man von pauschalen Beträgen in sechsstelliger Höhe bzw. von gestaffelten Beträgen bis zu sechsstelliger Höhe spricht und den Betroffenen Hoffnung macht, dass die Entschädigungsleistungen in diese Richtung gehen können, dann wäre es, wie Bischof Ackermann sagt, gar nicht zu vermeiden, dass auch Kirchensteuergelder in die Hand genommen werden. Nur: Ist die Höhe von Forderungen, die dem US-amerikanischen System entsprechen, nicht jedoch deutschen und europäischen Standards, überhaupt gerechtfertigt? Wenn nein, dann hätte man nicht die Forderungen selbst, wohl aber deren Höhe zurückweisen müssen. Das haben die in der Arbeitsgruppe zuständigen Bischöfe (wer waren sie eigentlich?) nicht getan. Das war ihr strategischer Fehler, und das fällt ihnen jetzt auf die Füße. Zu Recht.

Von Pater Klaus Mertes

Der Autor

Der Jesuit Klaus Mertes ist Direktor des katholischen Kolleg St. Blasien im Schwarzwald.