Studie legt Zusammenhang zwischen kirchlichen Regeln und Familienstrukturen nahe

Hat das Kirchenrecht die Psyche des Westens geprägt?

Veröffentlicht am 25.01.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Individualismus und Unabhängigkeit gelten als typische Charakterzüge von Menschen aus der westlichen Welt. Ergebnisse einer jüngst veröffentlichten wissenschaftlichen Studie legen nun nahe, dass das Kirchenrecht einen entscheidenden Anteil daran hatte.

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Der christliche Glaube und die katholische Kirche haben Europa mitsamt der ganzen westlichen Welt entscheidend geprägt. Trotz der Reformation und einer zunehmenden Säkularisierung der europäischen Gesellschaften ist der Einfluss der Kirche weiterhin sehr groß – oft sogar in Bereichen, die scheinbar kaum eine direkte Beziehung zum Christentum haben. Ein gutes Beispiel für diese Behauptung sind die Spuren, die kirchenrechtliche Vorgaben in der Psyche der westlichen Gesellschaft hinterlassen haben könnten. So legt eine vor einigen Wochen im renommierten Wissenschaftsmagazin "Science" veröffentlichte Studie nahe, dass das psychologische Profil des Westens wesentlich von den kirchlichen Regeln für Heirat und Familienordnung beeinflusst wurde.

"Westeuropäer und ihre kulturellen Abkömmlinge in Nordamerika und Australien neigen dazu, individualistisch, unabhängig, analytisch denkend und gegenüber Fremden prosozial zu sein", schreibt Jonathan Schulz von der George-Mason-Universität in Fairfax (USA), der die Studie geleitet hat. "Gleichzeitig zeigen sie eine geringere Konformität, Bereitschaft zur Unterordnung und Loyalität gegenüber der eigenen Gruppe und auch weniger Vetternwirtschaft", heißt es dort weiter. Dieses besondere psychologische Profil unterscheidet Menschen aus Staaten der westlichen Welt von den meisten Bewohnern anderer Länder und Kulturen, etwa in Afrika, Asien oder Südamerika. Doch auch mit den eigenen Vorfahren haben von heutigen westlichen Gesellschaften geprägte Menschen diesbezüglich nicht mehr allzu viel gemein.

Denn über den Großteil seiner Geschichte ist Europa von der Dominanz weitläufiger Familienclans geprägt worden. "Die meisten europäischen Populationen umfassten patrilineare Clans, Verwandtengruppen, Heiraten von Cousins, Polygynie, Ahnenverehrung und Gemeinschaftseigentum", so Schulz. Oftmals lebten weit entfernt Verwandte gemeinsam in einer Siedlung und teilten sich die Aufgaben des Alltags. Dazu gehörte auch die gemeinsame Erziehung der Kinder, die bei den Nachkommen wiederum zu einer großen Identifikation mit der Sippe führte. Diese besonders auf die Großfamilie fokussierten Strukturen führten zu stark am Wohl des Clans orientierten Verhaltensnormen.

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Doch der in der Spätantike und im Frühmittelalter immer größer werdende Einfluss des christlichen Glaubens führte nach Ansicht der Forscher zu einer grundlegenden Änderung: "Die katholische Kirche untergrub durch eine Kombination von religiösen Verboten und Vorschriften systematisch die intensiv familienbasierten Strukturen in Europa", resümieren sie. Die einschneidendste Veränderung war demnach das Verbot der Verwandtenehe, die bis zur Christianisierung in den meisten Gebieten Europas die Regel darstellte. Sie diente dazu, die Gemeinschaft innerhalb des Clans am Leben zu erhalten und zahlreiche Nachkommen zu zeugen. Die Kirche propagierte in Bezug auf die Ehe unter Verwandten jedoch ein striktes Verbot. Im frühen Mittelalter untersagte das Kirchenrecht sogar Ehen zwischen Cousins und Cousinen sechsten Grades ebenso wie zwischen Stiefgeschwistern, Schwägern und Ziehkindern – auch wenn gerade bei Adelsfamilien oft eine Ausnahme vom strikten Verbot der Verwandtenehe gemacht wurde.

Kirche verbietet weiterhin Ehe zwischen Cousins und Cousinen

Noch heute stellt die verwandtschaftliche Nähe zwischen Partnern ein kirchenrechtliches Ehehindernis dar, jedoch nur bis zu Cousins und Cousinen ersten Grades. Durch die Beschränkung der Partnerwahl auf Personen außerhalb eines bestimmten Nahverhältnisses soll Belastungen des familiären Zusammenlebens und Missbildungen durch Inzest vorgebeugt werden. Deshalb ist eine kirchenrechtliche Dispens in der geraden Verwandtschaftslinie, also zwischen Eltern und Kindern oder Großeltern und Enkeln, unter keinen Umständen möglich. Bei einer Ehe zwischen Cousins und Cousinen ist unter Umständen eine Erlaubnis durch die kirchliche Autorität möglich.

Gleichzeitig zum Verbot der Verwandtenehe setzte die Kirche im Mittelalter durch, dass Wiederheirat und Polygamie unter Strafe gestellt wurden. Diese "neuen" Regeln veränderten die Gesellschafts- und Familienstrukturen nachhaltig: Bis zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte sich in weiten Teilen Europas die monogame Kernfamilie mit Vater, Mutter und Kindern durchgesetzt, die unter Umständen mit den nächsten Verwandten zusammenwohnte, aber nicht mehr mit der gesamten Sippe. Ebenso hatte sich das Hochzeitsalter erhöht und es war üblich geworden, dass verheiratete Ehepartner einen eigenen Hausstand gründeten. Schulz und sein Team wollen nachweisen können, dass die Vorgaben der Kirche zu diesen gesellschaftlichen Veränderungen geführt haben. In ihrer Studie haben sie 440 Regionen in 36 europäischen Ländern miteinander verglichen und setzten sie in Beziehung zum Zeitraum der Christianisierung dieser Gebiete. Dabei stellte sich heraus, dass je länger ein Landstrich dem Einfluss der Kirche unterstand, sich auch die dortige Gesellschaftsstruktur verändert hatte: Weg von großen Familienclans, hin zu Kleinfamilien mit einem weniger engen Verhältnis zu ihren Verwandten.

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Eine Folge des gesellschaftlichen und familiären Wandels ist, will man Schulz glauben, noch heute zu bemerken: die typischen Charaktereigenschaften von Europäern. "Unsere Modelle zeigen, dass Europäer aus Regionen, die schon länger unter dem Einfluss der Kirche stehen, auch stärkeren Individualismus, größere Unabhängigkeit, weniger Konformität und Gehorsam sowie mehr unpersönliches Vertrauen und Fairness zeigen", so die Wissenschaftler um Schulz. Als Faustregel formulieren sie, dass pro Jahrtausend seit der Christianisierung einer Region "diese psychologischen Persönlichkeitsmerkmale um rund ein Zehntel" zugenommen haben.

Doch es gibt auch Kritik an der Studie von Schulz und seinem Team. Der zweite Vorsitzende der deutschen Gesellschaft für Kulturpsychologie, Pradeep Chakkarath, wies im "Tagesspiegel" darauf hin, dass die Zusammenhänge, die in der Studie angenommen werden, womöglich von "anderen, unbeachtet gebliebenen historischen Faktoren" herrühren. Die Schlussfolgerungen von Schulz seien zu vereinfachend, denn sie würden ausblenden, dass der Individualismus als Merkmal der Bewohner Europas auch mit den gesellschaftlichen Veränderungen der Reformation zusammenhängen könnte – eine These, die etwa andere Untersuchungen nahelegten. Außerdem hätte eine Differenzierung der unterschiedlichen Formen von individuellem Verhalten zur Seriosität der Studie beitragen können, so Chakkarath.

Ob Schulz und sein Team mit ihren Schlussfolgerungen richtig liegen, dass die kirchlichen Strukturen und das Kirchenrecht die Psyche der westlichen Welt geprägt haben, ist also keineswegs selbstverständlich. In jedem Fall zeigen die Ergebnisse der Forscher anschaulich, wie sehr sich gesellschaftliche Strukturen verändern können und wie groß der Einfluss der Kirche in Europa gewesen ist – so sehr, dass er teilweise bis heute nachwirkt.

Von Roland Müller