Verbindlichkeitsanspruch laufe zunehmend ins Leere

Theologin Hahn: Sinkende Akzeptanz des Kirchenrechts alarmierend

Veröffentlicht am 16.12.2019 um 15:09 Uhr – Lesedauer: 

Bochum ‐ Immer weniger Kirchenmitglieder sehen die kirchlichen Rechtsnormen als plausibel und damit legitim an. Für eine Kirche, die ihrem Selbstverständnis nach eine Rechtsgestalt brauche, sei das problematisch, warnt die Kirchenrechtlerin Judith Hahn.

  • Teilen:

Die Bochumer Kirchenrechtlerin Judith Hahn sieht in der sinkenden Akzeptanz kirchlicher Rechtsnormen durch Gläubige ein Problem für die katholische Kirche als Ganze. Da für eine wachsende Zahl von Katholiken das Kirchenrecht nur noch wenig Bedeutung habe, stütze es sich "auf einen Verbindlichkeitsanspruch, der weitgehend ins Leere läuft", schreibt Hahn am Montag in einem Beitrag des theologischen Feuilletons "feinschwarz.net". Für eine Kirche, die ihrem Selbstverständnis nach eine Rechtsgestalt brauche, sei der Befund alarmierend. Es entstünde ein ekklesiologisches Problem, das letztlich zu einer "Phantomkirche" führe.

Die Akzeptanz des Kirchenrechts stehe vielfach in Abrede, so Hahn weiter. "In dem Maße, in dem sich die Kirche pluralisiert, gerät das kirchliche Offenbarungs- und Naturrecht unter Illegitimitätsverdacht." Lehramtliche Festschreibungen wie "Ordinatio sacerdotalis" oder "Humanae vitae" erschienen vielen Kirchengliedern als nicht mehr plausibel. Gleichzeitig erwarteten rechtsstaatlich sozialisierte Kirchenglieder vom Kirchenrecht "einen vergleichbaren Standard". In der Kirche gebe es jedoch keine Formen moderner Machtkontrolle. "Gesetzgebungsverfahren sind in der Kirche nicht ausnahmslos gesetzlich durchgestaltet und kaum zu kontrollieren", betont die Kirchenrechtlerin.

Akzeptanz hängt von Beteiligung ab

Laut Hahn hängt die Anerkennung von Entscheidungen seitens der Gläubigen davon ab, ob sie auch in irgendeiner Weise im Findungsprozess repräsentiert seien. Doch in der Kirche seien nur Kleriker an der Rechtssetzung beteiligt. "Der weitgehende Ausschluss des Laienstands schwächt die Anerkennungschancen des Kirchenrechts", schreibt die Kirchenrechtlerin. Je größer die Abweichung zwischen Normen des Kirchenrechts und akzeptierten Normen beispielsweise aus dem staatlichen Recht sei, desto legitimer scheine es, das Kirchenrecht nicht zu befolgen. Folglich würden Gebots- und Verbotsnormen häufig missachtet. Auch vom Kirchenrecht eröffnete Möglichkeiten würden immer seltener wahrgenommen. Ehenichtigkeitsverfahren etwa spielten nur bei kirchlich Beschäftigten eine Rolle, weil sie bei einer erneuten Heirat arbeitsrechtliche Konsequenzen befürchteten. Das Kirchenrecht entwickle sich zunehmend zu einem "Amtskirchenrecht": Eine Institutionalisierung, also ein Prozess, der zu einer Verbindlichkeit führt, konkretisiere sich meist nur noch durch und bei den Mitgliedern des Kirchenamts, stellt Hahn fest.

Das Zweite Vatikanische Konzil habe in seiner Dogmatischen Konstitution "Lumen gentium" festgehalten, dass die Kirche notwendigerweise eine Rechtsgestalt haben müsse. Wer dieses Argument für überzeugend hält, müsse die immer weiter sinkende Akzeptanz kirchlicher Rechtsnormen für alarmierend halten, so Hahn. Eine Lösung dieses Problems bestehe darin, eine "Reinstitutionalisierung des Kirchenrechts als Recht der ganzen Kirche, des gesamten Volkes Gottes", zu fördern. Ein solcher Weg müsse transparente, rechtlich gesicherte und beteiligungsorientierte Verfahren organisieren, aus denen sich ein Recht ergibt, "das dem Grund- und Freiheitsrechteanspruch moderner Individuen Rechnung trägt".

Die kirchlichen Rechtsbestimmungen sind im Codex Iuris Canonici (CIC) gesammelt. Dabei handelt es sich um das Gesetzbuch des Kirchenrechts für die lateinische Kirche. Die aktuelle Version wurde 1983 von Papst Johannes Paul II. promulgiert. Für die katholischen Ostkirchen existiert ein eigenes Gesetzbuch, der Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium (CCEO). (mal)