Wie der Reli-Unterricht beim Umgang mit dem Scheitern helfen kann
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Liebe Leserinnen und Leser, welches dieser drei Verhalten kommt Ihnen aus Ihrer Schulzeit bekannt vor?
1. Sie werfen eine Klassenarbeit (wahlweise zerrissen oder zerknüllt) voller Wut in den Mülleimer in der Klasse. Aber so, dass es auch andere sehen – und vor allem der Lehrer mitbekommt.
2. Sie warten auf die Rückgabe der Klassenarbeit und werden ganz still. Immer wenn der Lehrer in die Nähe kommt, schauen Sie zur Seite oder auf den Boden. Endlich erhalten Sie ihre Arbeit und packen Sie so schnell es geht weg. Dabei lunzen Sie kurz rein, um das zu sehen, was Sie schon erahnten. Auf Fragen dieser nervigen Klassenkameraden, die herausbekommen wollen, wer (schon wieder!) die Fünf hat, antworten Sie nicht.
3. Sie erhalten Ihre Arbeit. Schauen rein. Sind vollkommen entsetzt und ein Kloß im Hals ist da. Und diese peinlichen Tränen schießen schon wieder in die Augen, über die sie aber keineswegs sprechen wollen.
Haben Sie sich wiedergefunden? Ich vermute, dass Sie sich an dieses ungute Gefühl sehr plastisch erinnern können. Ich selbst bin froh, dass ich das nicht mehr erleben muss. Wobei … mittlerweile fühle ich mich manchmal als Verursacher dieser Gefühle. Ob ich will oder nicht. Ich möchte Ihnen Einblicke in etwas geben, worüber meines Erachtens – vor allem im schulischen Bereich – zu wenig gesprochen wird. Der Umgang mit Scheitern und den Ableitungen, die man daraus zieht.
Drei Fallbeispiele des Scheiterns
Alle drei oben genannte Verhalten sind mir leider in den letzten Wochen begegnet.
Der Schüler, der bereits die schlechte Note erwartete, sie mit "War ja klar!" kommentierte und dann dramatisch zerriss. Höre ich Sie denken "Selbst Schuld"? Kann schon sein. Ich weiß nicht, ob er gelernt hat; ob es ihm wichtig war, eine andere Note zu schreiben. In dieser Situation war ich mir aber sicher, dass es ihm überhaupt nicht egal war. Er sagte zum Sitznachbarn: "Ich bin ein Fünferkandidat." Was assoziierte er damit implizit mit seiner Person? Mangelhaft.
Der Schüler, von dem ich weiß, dass zu Hause gerade der Haussegen schief hängt. So sehr, dass ich mich frage, wie er es schafft, überhaupt in die Schule zu kommen. Beim Austeilen der Arbeit weicht er meinem Blick aus, packt schnell ein. Er ahnt die Zahl ja bereits. Er verhält sich so, als würde er sich schämen. Was sagt er damit über seine Fähigkeiten aus? Mangelhaft.
Und die Schülerin, die in ihrer Arbeit ein leidenschaftliches Plädoyer für die Sinnhaftigkeit der Loharbeit verfasste und auf jede Frage umfassend und ausführlich antwortete. Das Problem: Ihre Antworten, so nachvollziehbar und gelungen sie waren, waren eben nicht das, was abgefragt wurde. Habe ich als Lehrerin unklar formuliert? Soll ich doch noch ein Auge zudrücken, "Kreativpunkte" geben? Alles möglich, aber solange wir versuchen, faire und objektive Noten zu geben, ist dies auch kein Weg. Ich hatte ein Gespräch mit dieser Schülerin, die ihre Leistung gar nicht erkannte, sondern sich vor mir als "dumm" bezeichnete und betonte, dass es "noch nie anders war". Ihre Leistung in der Klassenarbeit entsprach nicht dem Erwartungshorizont und dann auch nicht ihren eigenen Erwartungen an sich selbst. Sie sah sich darin bestätigt. Sie sei: Mangelhaft.
Für mich ist es bedrückend, diese Zeilen zu schreiben. Ich werde Ihnen sicherlich auch bald einmal von "Erfolgsgeschichten" berichten. Aber diese Erlebnisse lassen deutlich werden, dass zum einen etwas gewaltig schief geht in unserer Bewertung der eigenen Person und zum anderen, dass der Religionsunterricht hier ansetzen darf.
Dass Schülerinnen und Schüler eine Klassenarbeit in Religion schreiben und diese Leistung als "mangelhaft" bewertet wird, ist eine Tatsache, über die man sachlich sprechen kann. Wurde genügend im Unterricht geübt? War das Thema und die Fragestellung verständlich? Wurde zuhause gelernt, usw.
Aber bei keinem der drei Erlebnisse, von denen ich berichtete, wäre das alleine zielführend und hilfreich gewesen. Die rote Fünf, der Begriff "mangelhaft“, hat wehgetan und wurde auf die eigene Person bezogen. In der Schule wird ständig bewertet. Die Leistung natürlich. Nicht die Person! Aber wer ist denn – vor allem im Teenageralter – so cool, dass er das nicht auf sich selbst bezieht? Mangelhafte Leistung gleich mangelhafte Person. Gescheitert.
Jeder scheitert anders
Scheitern tut weh. Und was wir als Scheitern verstehen, ist verschieden. Nur eine schlechte Note in Religion? "Kann doch mal passieren!" "Was war denn da mit dir los?" "Kopf hoch, nur eine Note!" Phrasen wie diese können in solchen Momenten wie blanker Zynismus verstanden werden. Der Schüler, der die Arbeit zerreißt, sieht dies vielleicht als erneute Bestätigung dafür, eine "Fünf" zu sein. Der Schüler, dem es gerade schlecht geht, lässt diese (erneute) Negativerfahrung noch weiter in das Loch fallen. Und die Schülerin, die so engagiert schrieb? Anstatt zu sehen, dass sie über das Ziel hinausschoss, sieht sie sich nur als zu "dumm".
Die Lösung? Noten abschaffen? Strukturen ändern? Langfristig könnte man darüber diskutieren, aber was kann ich jetzt tun, um mit meinen Schülern umzugehen? Ein Ansatz: Welchen (Stellen)wert hat Scheitern für uns? Sind wir unsere Leistung? Also gut oder ausreichend?
Der Religionsunterricht könnte helfen
Was heißt das nun für meinen Religionsunterricht? Für mich kann Religionsunterricht hier zweierlei bieten. Zum einen: Die Auseinandersetzung mit christlichen Traditionen und Überlieferungen. Die Bibel runtergebrochen auf einige wesentliche Aussagen könnte so klingen: Der Mensch hat ständig irgendwelche Flausen unterschiedlicher Ausprägung im Kopf und Gott ist letztlich immer wieder da, um ihn aufzufangen – nun ja, um Alten Testament auch mal mit schwerem Geschütz – und ihm auf die Schulter klopfend zu sagen: Auf ein Neues, mein liebes Geschöpf.
Zum anderen: Wo sonst könnten denn genau diese Erfahrungen thematisiert werden als im Religionsunterricht? Was uns als Menschen ausmacht, wie wir mit Krisen umgehen und vor allem, an welchem Maßstab wir uns und unser Verhalten messen. Könnten wir daraus nicht etwas mitnehmen und vorleben? Zum Beispiel erzählen, wo man selbst schon gescheitert ist? Dass der eigene Lebenslauf nicht schnurgerade war? Dass man auch dachte, die Welt geht unter, wenn der Blaue Brief kommt?
Und was ist nun aus den Klassenarbeiten geworden? An den Noten hat sich nichts geändert. Auch wenn mich diese Ergebnisse schon öfter über Sinn und Unsinn schriftlicher Leistungsnachweise nachdenken lassen. Anderes Thema.
Drei Konsequenzen habe ich daraus gezogen:
1. Alternative Leistungsnachweise, in Form von persönlichen Auseinandersetzungen und/oder kreativen Arbeiten. Nein, das ist keine Umschreibung für das Malen von Mandalas.
2. Die Themen "Scheitern" und "Resilienz" werde ich nun in meinem Unterricht verankern.
3. Eine Kolumne schreiben: Liebe Leserinnen und Lehrer, die unschöne Erinnerung, um die ich Sie zu Beginn der Kolumne gebeten habe, möchten wir anderen ersparen. Was können wir alle dafür tun, dass wir unseren Schülerinnen und Schülern, Kindern, Patenkindern, uns selbst einen anderen Umgang damit vorleben, was Scheitern für uns bedeutet?