Heiko Herrlich: Gott hat mich durch meine schwersten Ängste getragen
Als Heiko Herrlich die Anfrage für dieses Interview erreicht, weiß er erstmal gar nicht, ob er als Fußballtrainer zu Themen wie "Angst" und "Berufung" überhaupt etwas sagen könnte. Zwar ist der 48-Jährige seit seiner Kindheit gläubiger Christ. Die Vierer-Kette zu erklären, wäre ihm aber trotzdem leichter gefallen, meint Herrlich. Aus irgendeinem Grund hat der Wahl-Dortmunder das Interview dann doch zugesagt – und in einem intensiven Gespräch eine Menge zu sagen gehabt.
Frage: Einen alternativen Termin für dieses Interview haben Sie abgelehnt mit der Begründung, Sie hätten einen Termin im Gefängnis. Was machen Sie denn da?
Herrlich: Ich besuche im Rahmen eines sozialen Projekts ab und an Straftäter im Gefängnis. Deutschland ist ein Rechts- und Sozialstaat. Straftäter sollen nach ihrem Gefängnisaufenthalt wieder in die Gesellschaft integriert werden. Wenn das funktionieren soll, müssen wir ihnen währenddessen aber auch die Möglichkeit geben, Kontakt mit der Außenwelt zu halten. Ich möchte den Gefängnisinsassen mit meinen Besuchen Wertschätzung entgegenbringen. Und für sie ist es sicher mal eine Abwechslung, Geschichten aus dem Fußball zu hören. Ich versuche auch selbstkritisch zu sein und zuzugeben, wo ich in meinem Leben selbst Fehler gemacht habe. Dass es wohl für jeden Menschen schon mal eine Abzweigung gab, bei der er in die falsche Richtung gegangen ist.
Frage: Haben Sie bei den Besuchen ein mulmiges Gefühl oder gar Angst?
Herrlich: Ich bin jedes Mal angespannt. Aber als Angst würde ich das nicht bezeichnen. In der Bibel heißt es an vielen Stellen: Habt keine Angst.
Frage: Aber dennoch gehört Angst doch zu den grundlegenden menschlichen Gefühlen…
Herrlich: Das schon. Angst kann ja auch eine Schutzfunktion haben. Wenn Menschen völlig angstfrei wären, dann würden sie sich wahrscheinlich ständig in Situationen begeben, die ihnen wirklich gefährlich werden können – wie die Straftäter. Und natürlich habe ich auch Ängste: Wie entwickeln sich meine Kinder, treffe ich als Vater die richtigen Entscheidungen? Wohin steuert unser Weltklima? Ich kann nicht behaupten, dass ich im Glauben so gefestigt bin, dass ich vollkommen angstfrei bin.
Frage: Das sind wahrscheinlich die allerwenigsten…
Herrlich: Wenn ich Angst habe, frage ich mich nur manchmal: Warum ist mein Glaube so schwach?
Frage: Was war in Ihrem Leben die Situation, in der Sie am meisten Angst hatten?
Herrlich: Das war vor 20 Jahren, als ich die Diagnose eines Hirntumors bekam. Ich war damals 28, spielte gerade bei Borussia Dortmund. Bis zu meiner Krankheit hatte ich mein Leben immer mit einer gewissen Unbekümmertheit gelebt. Dann kam von einem Moment auf den nächsten die totale, nackte Angst: Was passiert jetzt mit mir? Ich konnte die Situation überhaupt nicht einschätzen. Das ist das schlimmste Gefühl von Angst, das ich jemals erlebt habe.
Frage: Wie sind Sie damit umgegangen?
Herrlich: Ich habe Halt im Glauben gesucht — und da auch wirklich Frieden gefunden.
„Ich will das bleiben, was ich bin und wofür ich stehe — und dazu gehört auch mein Glauben.“
Frage: Haben Sie in diesem Moment nicht gerade am Glauben und an Gott gezweifelt? Schließlich waren Sie als Fußballspieler voll auf der Erfolgsspur und dann passiert so etwas…
Herrlich: Die Frage "Warum ich?" habe ich mir damals eigentlich nie gestellt. Das hätte ja auch gleichzeitig bedeutet: Warum nicht ein anderer? Ich hatte in meinem Leben immer das Gefühl, dass alles, was passiert, schon richtig und gut ist. Ich hatte damals ein tiefes Gottvertrauen und habe gespürt: Damit will Gott mir etwas sagen. Ich muss auch die Chance in der Situation sehen – so hart, wie es ist. Ich habe damals alle Leute kontaktiert, denen ich mal wehgetan oder denen gegenüber ich mich falsch verhalten hatte. Falls ich schon oben anklopfen müsste, wollte ich wenigstens mit einer weißen Weste dastehen. Und danach ging es mir gut! Ich hatte Frieden wie eigentlich nie mehr danach in meinem Leben. Man hat immer Konflikte, die man nicht komplett ausräumen kann. Aber damals wollte ich reinen Tisch machen.
Frage: Ihre Ängste waren dann also weg?
Herrlich: Nein, ich hatte trotzdem wahnsinnige Ängste. Aber wenn ich auf die Situation damals zurückschaue, welche Kräfte ich mobilisiert habe, dann denke ich immer: Das war gar nicht meine Kraft, sondern das war Gottes Kraft. Gott hat mich durch meine schwersten Ängste getragen.
Frage: Wie sind Sie zu Ihrem Glauben gekommen?
Herrlich: Schon als kleiner Junge habe ich gedacht, dass es einen lieben Gott gibt. Wenn ich Bauchschmerzen hatte, dann habe ich gebetet: Bitte mach die Bauchschmerzen weg. Und wenn sie dann tatsächlich weggingen, habe ich mich gefreut. Das waren erste, kindliche Begegnungen mit Gott. In meiner Jugend bin ich dann vom Glauben völlig weggekommen. Aber als meine Fußballerkarriere als junger Erwachsener begann und ich zu den Profis von Bayer Leverkusen durfte, habe ich doch wieder gedacht: Da muss jemand sein, der es gut meint mit mir, der Vertrauen in mich hat, mich den richtigen Weg lenkt. Soviel Glück kann man gar nicht haben. In der Mannschaft habe ich dann den brasilianischen Fußballspieler Jorghino kennengelernt, ebenfalls Christ. Der hat mich zu Bibelkreisen mitgenommen und so bin ich tiefer in den Glauben reingerutscht. Aber auch danach gab es Hänger und Zweifel.
Frage: Spielt der Glaube in Ihrer Arbeit als Trainer eine Rolle?
Herrlich: Klar blitzt das schon mal durch, der Glaube gehört ja zu mir. Ich habe den Spielern zum Beispiel schon die Bibelstelle von Jesus und der Ehebrecherin vorgelesen, in der er sagt: "Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie." Das passt in problematischen Situationen ganz gut, besonders, wenn Spieler untereinander Krach haben. Dann merken die Jungs: Jeder hat schon mal Fehler gemacht.
Frage: Sie haben in dem Dokumentarfilm "Und vorne hilft der liebe Gott" gesagt, dass Sie früher mal für Ihren Glauben belächelt wurden…
Herrlich: Nicht nur früher, heute sicherlich auch…
Frage: Hatten Sie jemals Hemmungen, Ihren Glauben offen zu zeigen?
Herrlich: In manchen Situationen dachte ich schon, das Thema ist jetzt vielleicht eher unpassend und dann habe ich mich zurückgehalten. Mir ist es allerdings auch wichtig, nicht drei verschiedene Mäntel an einem Tag zu tragen, wie man sagt. Ich will das bleiben, was ich bin und wofür ich stehe — und dazu gehört auch mein Glauben.
Frage: Haben Sie oder die Spieler manchmal auch Angst vor einem Spiel?
Herrlich: Klar gibt es schon Gegner, die einem Respekt einflößen. Wenn wir in Leverkusen gegen Bayern München spielten, dann wussten wir, das wird jetzt ganz schwer.
Frage: Was sagen Sie der Mannschaft in einer solchen Situation?
Herrlich: Ich versuche vor wichtigen Spielen, die Jungs stark zu machen. Als Trainer ist es ja meine Aufgabe, zu erspüren, wenn die Spieler mutlos oder eingeschüchtert sind. Ich finde allerdings, dass Angst und Fußball nicht zusammenpassen. Angst ist für mich etwas Existentielles, das außerhalb meiner Kontrolle liegt. Aber im Fußball — und eigentlich generell im Leben — geht es einfach nur darum, sein Bestes zu geben, alles aus sich herauszuholen. Mehr geht ja eh nicht. Und wenn ich dann noch weiß, dass mich Gott schützt, macht mich das trotz aller Anspannung ruhig. Aber natürlich gibt es Ausnahmesituationen. Bei einem Abstiegsduell etwa, da steht die berufliche Existenz auf dem Spiel. Da ist es vollkommen normal, dass man Angst hat. Wie gesagt: In einer gesunden Dosis birgt Angst auch eine Chance. Sie ist eine Form von Nervosität und das macht einen leistungsstärker – wie bei einer Prüfung. Nur wenn Angst zu dominant wird und lähmt, dann ist sie der falsche Ratgeber.
Frage: Verstehen Sie Trainersein als Ihre persönliche Berufung?
Herrlich: Das habe ich mich auch schon oft gefragt – gerade auch in Zeiten, in denen ich keinen Job hatte. Ich empfinde es als unglaubliches Geschenk, im Fußball mit jungen Leuten arbeiten zu dürfen. Das ist mein Talent. Jesus hat ja auch das Gleichnis der Talente erzählt, die ein Herr seinen Knechten übergibt: Der eine vergräbt seine vielen Talente aus Angst und sie verkümmern. Aber die anderen machen etwas daraus. Für mich gibt es nichts Schöneres als Fußballtrainer zu sein. Im Fußball gibt es vier Leistungsfaktoren: Technik, Taktik, Athletik und Persönlichkeit. Die Persönlichkeit ist mir ganz wichtig, ich möchte meinen Spielern auch eine Haltung vermitteln: Die Mannschaft ist das Wichtigste, nicht ich selbst. Sponsoren, Berater, Eltern und Freunde vermitteln einem oft: Es geht hier um dich. Dabei muss ein Fußballspieler eine dienende Haltung haben. Ich muss geben, dann bekomme ich auch von der Mannschaft viel zurück. Und wer im Fußball ein guter Teamplayer war, hat es auch im Leben danach leichter. Vielleicht ist es auch die Berufung eines Fußballtrainers, das zu vermitteln.
Frage: Können Sie verstehen, wenn junge Menschen – ob sie Priester oder Fußballspieler werden wollen – Angst vor ihrer Berufung haben?
Herrlich: Im Fußball glaube ich nicht, dass jemand Angst hat. Profi-Fußballer zu werden, ist der Traum vieler Jugendlicher. Klar müssen sie auch auf vieles verzichten, aber sie machen das gern, weil sie ein Ziel haben. Für angehende Priester kann ich nicht wirklich beurteilen, inwiefern ihnen ihr künftiger Lebensweg auch Angst macht. Aber ich finde es toll, dass es junge Leute gibt, die diesen Weg einschlagen, die, trotz allem, was in der katholischen Kirche schiefläuft, sehr engagiert sind. Auch sie vergraben ihre Talente nicht, sondern machen etwas daraus.
Frage: Was müsste die katholische Kirche machen, damit sich wieder mehr Leute für sie interessieren und vielleicht sogar berufen fühlen, in ihren Dienst zu treten?
Herrlich: Ob die Kirche die Menschen für den Glauben begeistern kann, hängt meiner Ansicht ganz stark von Personen ab: Wie authentisch sie ihren Glauben vermitteln. Hier in Dortmund hatte eine Gemeinde großen Zulauf, weil es einen sehr überzeugenden Pastor gab. Die Leute — auch Protestanten — kamen in die Kirche wegen dieses Menschen. Weil er einfach glaubwürdig herüberkommt, in dem was er ist. So jemand Glaubwürdiges ist auch Papst Franziskus. Den finde ich super. Er setzt ein anderes Denken ein, er wagt es, Dinge zu thematisieren, bei denen andere wie vor einer Wand standen. Er reißt in der katholischen Kirche eine ganz dicke Kruste auf. Das finde ich wichtig. Wenn ich ihn bei seinen Reisen oder Audienzen im Papa-Mobil sehe, wenn ich sehe, wie er mit den Menschen umgeht, da lacht mein Herz. Und ich glaube, das geht nicht nur mir so. Dieser Papst ist ein Geschenk für die katholische Kirche. Trotzdem weiß ich selbst sehr gut, wie schwer es ist, junge Menschen für den Glauben zu begeistern. Ich merke es bei meinen eigenen Kindern. Wenn ich sie frage: Kommt ihr mit in den Gottesdienst, dann gibt es nur wenig Interesse. Ich besuche übrigens inzwischen auch gern Gottesdienste in freien evangelischen Gemeinden. Ich mag, dass man dort mit den existentiellen Themen konfrontiert wird, die einen ausmachen, mit den eigenen Sorgen und den eigenen Ängsten.
Frage: Die katholische Kirche hat im Moment mit sehr hohen Austrittszahlen zu kämpfen – das wird unter anderem auf den Missbrauchsskandal zurückgeführt. Haben Sie auch schon mal daran gedacht, auszutreten?
Herrlich: Nein. Wie gesagt: Die Kirche hat mir schon als Kind Halt gegeben. Und es gibt so viele Leute, die sich ehrlich engagieren, die machen unheimlich viel Gutes, ob als Priester in Gemeinden, in Kindergärten, in Schulen, in Altenheimen. Allein schon deswegen werde ich immer in der Kirche bleiben.