Mehr als Livestreams: Das Internet ist ein Raum der Pastoral
Ludwig Martin Jetschke ist einer der erfolgreichsten christlichen YouTuber im deutschsprachigen Raum. Auf seinem Kanal "Lingualpfeife" beschäftigt der Theologe und Organist sich mit Kirchenmusik, Spiritualität und Theologie. Um seinen Kanal hat sich die "LinguCommunity" gebildet, die auf verschiedenen Social-Media-Kanälen und bei regelmäßigen Treffen eine christliche Gemeinschaft nicht nur im Netz bildet. Im Zuge der Corona-Krise hat die digitale Kirche viele neue Gemeindemitglieder bekommen – im Gespräch mit katholisch.de erklärt Jetschke, wie die Kirche mit diesem plötzlichen Digitalisierungsschub umgehen sollte.
Frage: Herr Jetschke, im Zuge der Corona-Krise gibt es plötzlich unzählige spirituelle Streaming- und YouTube-Formate. Wie finden Sie als katholischer YouTube-Pionier es, dass Sie plötzlich so viele Mitstreiter online haben?
Jetschke: Mich freut es, dass die Chancen der Digitalisierung für die Pastoral überhaupt erkannt werden. Man merkt jetzt, dass es viel mehr Möglichkeiten gibt als nur eine Facebook-Seite zu betreiben, auf der irgendwelche News verlinkt werden. Im Netz ist nämlich echte Interaktion möglich – und das ist eine große Chance.
Frage: Ist es denn die richtige Strategie, dass nun so viele Pfarreien ihre Gottesdienste live streamen?
Jetschke: Ein Livestream ist besser als kein Livestream. Mir wäre es nur lieber gewesen, wenn an mancher Stelle besser überlegt worden wäre, wie man das umsetzen kann und was es wirklich braucht. Ich sehe nämlich auch viel Aktionismus, wo noch nicht klar ist, in welche Richtung das geht. Auf der anderen Seite: Wir sind in einer Krisensituation, und zu Krisen gehört auch ein gewisser Aktionismus dazu. Es fehlt auch gewisse theologische Grundsatzarbeit, was und warum man etwas macht.
Frage: Die "LinguCommunity" ist eine sehr aktive digitale Gemeinschaft. Wie gehen Sie diese theologischen Fragen an, wie Kirche online aussehen kann?
Jetschke: Da passt das Kirchenbild, das das Zweite Vatikanische Konzil stark gemacht hat: Das pilgernde Gottesvolk, das gemeinsam unterwegs ist. Bei uns sind Laien nicht, wie das Wort normalerweise verstanden wird, Leute, die irgendwie rumdilettieren. Sie sind stattdessen qua Taufe Priester, König und Prophet und übernehmen so Verantwortung.
Frage: Und wie wird diese Theologie dann in einer Online-Gemeinschaft konkret?
Jetschke: Die Verantwortung der Getauften muss wirksam werden. Das ist das große Defizit bei vielen Streaming-Formaten, bei denen die Leute als Zuschauer passiv zugeschaltet werden, während ein Priester allein oder in einer Kleingruppe die Messe feiert. Dabei können die Laien ihre Rolle nicht ausfüllen. Bei uns in der Community verfolgen wir einen Ansatz der Partizipation. Alles was wir machen, wird gemeinsam organisiert, und es findet nur statt, wozu es auch wirklich einen Bedarf gibt. Wenn einige die Vesper oder die Laudes oder mitten in der Nacht die Lesehore beten wollen, dann binden wir aktiv die Leute ein, etwa in Konferenzschaltungen. Für Streams heißt das: Schauen, wie man interaktive Elemente einbindet.
Frage: Wie könnte das geschehen?
Jetschke: Das einfachste wäre, individuell oder gemeinsam Fürbitten zu formulieren, die auch Konsequenzen für die kleine Gemeinde am Altar haben. Beim Zelebranten muss ankommen, was die anderen Mitfeiernden bewegt, damit die erweiterte Feiergemeinschaft deutlich wird.Daher muss der Live-Chat unbedingt aktiviert und auch in Echtzeit verfolgt werden. Chancen der Partizipation können sich etwa unmittelbar im Anschluss an den gestreamten Gottesdienst in einem Livegespräch mit den Schreibenden ergeben.
Frage: Die "digitale Kirche" gewinnt gerade viele neue Gemeindemitglieder. Was empfehlen sie denen statt dem xten Gottesdienst-Livestream?
Jetschke: Ich würde gar nicht unbedingt "statt" sagen, sondern: Was kann darüber hinaus noch geschehen? Der Gottesdienststream aus der Heimatgemeinde hat schon seine Berechtigung, wenn man online da feiert, wo man am Sonntag nicht mehr zusammenkommen kann. Das wird jetzt auch mit Blick auf Ostern wichtig werden. Aber ich mache mir auch Sorgen um die, die nicht unbedingt gleich vom digitalen Angebot etwas mitbekommen. Wenn ich an meine Gemeinde denke, dann haben da viele in der Sonntagsmesse gar keinen Internet-Zugang, und bei manchen, die einen haben, läuft vielleicht die WhatsApp-Familiengruppe, aber nach fünf Minuten Gottesdienst-Livestream wäre das Datenvolumen aufgebraucht. Meine große Anfrage ist daher: Mit welchen Formaten erreichen wir diese Menschen, denen am Sonntag besonders die Messe fehlt?
Frage: Und wie kann das gelingen?
Jetschke: Ich würde mir wünschen, dass Seelsorgerinnen und Seelsorger noch viel mehr im Gespräch zur Verfügung stehen, nicht nur in Videoformaten. An Telefonkonferenzen denkt man nicht unbedingt unter dem Schlagwort "digitale Kirche", aber das könnte für viele das richtige sein. Bei uns in der Community sind die Abend- und Nachtstunden unheimlich wichtig für Menschen, nicht einmal nur während dieser Krise gerade. Für Kranke und andere, die nicht nach draußen können, sind Gespräche eine Wohltat. Wir nutzen dazu "Discord", einen Messenger für Sprach- und Videotelefonie. Das kann im Extremfall Leben retten, wenn Menschen zuhause die Decke auf den Kopf fällt.
„Das Volk Gottes sammelt sich gerade online.“
Frage: Wie kann diese Krise die Kirche verändern?
Jetschke: Die große Chance, die wir jetzt haben, ist: Menschen, das Volk Gottes sammelt sich gerade online. Die Kirche hat die Digitalisierung lange verschlafen und kleingeredet, das war eine Sache für wenige Nerds. Jetzt wird deutlich, dass es schon viel Kompetenz gibt und viel möglich ist. Da wäre es schade, wenn sich diese Menschen nach der Krise wieder zerstreuen würden. Stattdessen sollten wir schauen, wie wir die Gemeinschaften stärken können, die sich jetzt entwickeln.
Frage: Was braucht es dazu?
Jetschke: Ich hoffe, dass die digitalen Anläufe nicht so schnell wieder weg sind, wie sie jetzt gekommen sind. Alle sammeln gerade viel Knowhow, das sollten wir nutzen und weiterentwickeln. Da müssten jetzt die Bistümer für sich oder gemeinsam dafür sorgen, dass mehr hauptamtliches, dauerhaft verfügbares Personal für die Online-Seelsorge zur Verfügung steht. Ehrenamtlich ist viel möglich, aber eine dauerhafte, qualifizierte Seelsorge online muss man so ernst nehmen wie andere Kategorialseelsorge, etwas im Krankenhaus oder für Menschen mit Behinderung. Das Internet ist ein Raum der Pastoral – und den gut und professionell zu bestellen, kann man nicht nebenher machen.