Theologe Bogner fordert Umdenken der Bischöfe in Sachen Eucharistie

Diese Krise wird auch die Kirche verändern

Veröffentlicht am 26.03.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Debatte

Freiburg im Üechtland ‐ Krisen verändern – auch die Kirche. Die unterbrochene Gottesdienstroutine wirft bei den Gläubigen zentrale Fragen auf, schreibt der Moraltheologe Daniel Bogner. Doch Kirche schafft es nicht mehr, ihre rettende Botschaft zu vermitteln. Dabei hätte sie eine uralte Antwort auf die aktuelle Situation.

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"Die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg" – das sagt die Bundeskanzlerin zur Coronavirus-Pandemie, und sie wird es nicht leichtfertig tun. Während die einen noch meinen, man könne bald wieder am Status quo ante anknüpfen, schauen andere dem ins Auge, was mit einiger Wahrscheinlichkeit der Fall ist: Dass diese Krise sehr viel mehr verändern wird als die meisten noch vor Kurzem annehmen konnten. Das verwundert nicht bei einer Lage, die existenziell ist, weil sie Leben und Gesundheit aller betrifft. Und weil sie in den Reaktionen, die das erfordert, dem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellem Leben den Boden der Normalität entzieht. Wie werden wir nach dieser Krise weitermachen – das ist eine Frage, die immer lauter gestellt wird, weltweit. Wo finde ich wieder Arbeit? Wie nehmen wir einen neuen Rhythmus auf? Welche Gesellschaft wollen wir miteinander sein, auf dem neuen, unbekannten Grund, der dann zu betreten ist?

Wandel beginnt als verändertes Muster von Erwartungen

Krisen verändern, sie wirken als Sortierungsfilter für wichtig und unwichtig. Die stabilisierende Kraft der Routinen, die den Alltag nach vorne treiben, ist unterbrochen. Es öffnet sich ein Raum für die Deutung von Erfahrungen, welche den zerbrechenden Kontexten Rechnung trägt. "Wandel beginnt als verändertes Muster von Erwartungen", so formuliert es ein Zukunftsforscher. Viele haben diese Hoffnung: Dass die Krise uns verändert weitergehen lässt – mit einem wacheren Blick für die Überforderungen, denen wir uns aussetzen, für die Verletzungen, die wir unserer Mitwelt routinemäßig angetan haben, für die gnadenlose Überreizung unseres Alltagstaktes, jenseits allen menschlichen Maßes. Solche Hoffnung auf Veränderung gibt es in allen unseren Lebenswelten – in Politik, Kultur und Wirtschaft. Aber was macht die Erfahrung der Krise mit der Religion, vor allem: mit der Praxis unseres Glaubens – inmitten einer Kirche, die selbst in einer ihrer schwersten Krisen steckt?

Daniel Bogner
Bild: ©Freiburger Nachrichten/Corinne Aeberhard

Daniel Bogner ist Professor für Moraltheologie und Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg.

Auf die Frage, wie Religion und Kirche mit der Corona-Krise umgehen und mit welcher Erwartungshaltung die Menschen in dieser Krise der Kirche begegnen, sind drei Wege vorstellbar.

  1. Es kommt zu einer Stabilisierung althergebrachter Muster religiöser Praxis. Menschen erinnern sich daran, dass die Kirche in unsicheren Zeiten ein Anker der Stabilität und ein unerschütterlicher Ort der Heilszusage sein will und orientieren sich wieder neu auf sie hin. Es wäre die Rückkehr zu einer Versorgerkirche, die sich als bevollmächtigte Verwalterin von Heilsgütern versteht. Genau als solche ist sie allerdings auch selbst in einer tiefen Legitimationskrise und vor der Herausforderung, ihr Ämter- und Sakramentenverständnis, und als Grundlage davon ihre eigene Ekklesiologie neu zu denken. Denn eben die Annahme, als Institution sei sie die Besitzhalterin des Heils, könne es über ihren Klerus verteilen und deswegen sei auch der geweihte Amtsträger ein bisschen heilig, ist ja mitursächlich am Missbrauchs- und Vertuschungsskandal dieser Kirche. Mein Eindruck ist: Die Menschen spüren das genau und deshalb misstrauen sie allen Versuchen, die Kirche als eine solche Anstalt des Heils zu erneuern – auch wenn viele alte Gewohnheiten aus dieser Versorgerkirche inmitten gesellschaftlicher Verunsicherung kurzfristig Trost spenden.

  2. Das zweite Muster spielt die mediale Karte. Kurz hatte man den Eindruck, dies sei ein möglicher Weg für eine Rückkehr der religiösen Deutungskompetenz, als sich Papst Franziskus Mitte März in Rom zur Kirche San Marcello in Corso aufmachte. Darin befindet sich das Kreuz, das inmitten der großen Pest von 1522 die Menschen betend durch die Stadt Rom trugen. Es gingen für einen Moment ein paar starke Bilder durch die Welt. Doch dabei blieb es. Anders als noch zu Zeiten von Papst Johannes Paul II., der seine Weltpolitik auch mit einer ikonografischen, symbolstarken Bildersprache voranbrachte, ist solches bildhafte Handeln und Sprechen für die Kirche heute offenbar kaum mehr möglich. Schuld daran ist sicher die digitale Kultur der Gegenwart mit ihrer Bilderinflation. Aber es gibt auch eine selbstverschuldete Ansichtslosigkeit der Kirche. Sie ist derart im Straucheln über ihre eigenen inneren Abgründe, dass ihr offenbar der Instinkt dafür abhandenkommt, welche starken Signale die Botschaft von einer rettenden Gerechtigkeit Gottes in unserer Zeit aussenden könnte. Stattdessen gut gemeinte, aber eben doch unfreiwillig hilflose Bilder von Geistermessen mit klerikalen Alleinunterhaltern, die mehr Frust als Hoffnung aussenden, indem sie das Schlamassel der Ständekirche erneut ins Bild bringen. Und daneben jede Menge digital-pastoraler Budenzauber – Aufrufe zum Kerzenanzünden, Herzchen ins Fenster hängen, gemeinsames Musizieren… Viel mediales Rauschen und Angebote, wohin man schaut. Natürlich ist da manches Hilfreiche dabei, ich möchte es nicht schlechtreden! Wo aber vernimmt man die eine, die rettende Botschaft?

  3. Viel mehr als diese beiden Optionen wird man im Ausgang aus dieser Krise wohl etwas anderes zur Kenntnis nehmen müssen. Menschen, die bislang noch irgendwie kirchlich gebunden waren, aber doch in innerer Distanz zu ihr standen, deren einstmalige kircheninstitutionelle Loyalität durch Missbrauch und Vertuschung tiefe Risse bekommen hat, wenden sich endgültig ab. Sie wandern in die Gruppe der sogenannten "Fernstehenden", obwohl ihr Herz weiterhin, vielleicht gar mehr denn je von der biblischen Botschaft des Glaubens angesprochen ist. Die Corona-Krise wirkt, gerade indem sie einen Abstand zum kirchlichen Routinebetrieb erzwingt, wie ein Katalysator für die Selbstklärungsprozesse vieler Menschen, die schon lange mit Gestalt und Form der Kirche hadern. Die Hoffnung, nach der sozialen Corona-Eiszeit würden die Gotteshäuser und Gemeindesäle wieder dankbar mit neuem Leben erfüllt werden, bleibt wohl realitätsferne Romantik. Eher werden viele merken, dass ihnen gar nicht so viel gefehlt hat in der erzwungenen Kirchendistanz. Sie werden es wagen zuzugeben, dass sie diesem Kirchenbetrieb, seiner knirschend-elenden Reformverzögerung, seinen geschönten Selbstbildern fernbleiben können, ohne sich selbst etwas vorwerfen zu müssen. Und manche werden stattdessen hängen geblieben sein bei so manchem geistlichen Angebot im virtuellen Raum, das mehr Sättigung gibt als eine verknöchert empfundene Regelpastoral.
Bild: ©picture alliance / abaca

Papst Franziskus unternahm am 15. März eine Fußwallfahrt durch die leeren Straßen Roms, um für ein Ende der Pandemie zu bitten.

Eine neue Landschaft wird sichtbar

Die Pandemie zwingt zum weltweiten Shut-down. Es entsteht das, was die Sozialtheorie eine "kollektive Lage" nennt. Menschen nehmen ihre gleiche Verwundbarkeit wahr. Social distancing ist nur die Miniatur eines kollektiven Abstandnehmens von dem, was die "Welt davor" ausgemacht hat. Da kommt notwendig die Frage auf: Was zählt in einer solchen Lage noch die Konstellation von gestern? Auch kirchlich wird sich diese Frage stellen. Beim Synodalen Weg wird man sie spüren und Antworten finden müssen. Man wird weitermachen, aber es wird anders sein. Eines ist sicher: Die Erfahrungen von Kirche-Sein im Standby-Modus, von religiöser Mangelwirtschaft in der Regelkirche und den spirituellen Ausbruchsversuchen einer digitalen Nomadenkirche, das Echo, das das alles im eigenen Seelenraum auslöst, wird zu Veränderungen führen. Es wird eine veränderte Landschaft religiöser Virtuosen hervorbringen, und diese neue Landschaft wird einen impact haben auf die Konstellation der Zeit zuvor.

Nichts macht diese Hinfälligkeit der alten Konstellation so deutlich wie der Umgang mit den entfallenden Gottesdiensten. Wie absurd: Die Kirchenleitungen beschränken sich weitgehend auf den "Dispens" von diversen Pflichten, das Absagen von Feiern, das Räumen von Orten und Ereignissen. Alles in allem eine defensive, zaudernd-weichende Grundhaltung, die sich als Verantwortlichkeit ausgibt. Zeigt sich im Stresstest der Krise der Grundgestus einer Institution, die es schon lange verlernt hat, ins Offene hinein zu agieren, vertrautes Terrain zu verlassen?

Täuscht sich denn, wer einen Stil des Geschäftsmäßigen vernimmt in der Art, wie mit dem wochen-, vielleicht monatelangen Ausfall der Eucharistiefeiern umgegangen wird? Was für ein Widerspruch: Da gilt die gemeinsame Feier der sonntäglichen Eucharistie als der zentrale, durch nichts und niemals zu ersetzende Grundvollzug, um den und aus dem heraus sich überhaupt Kirche bildet. Und dann erlebt man dessen Ausfall keineswegs als das Skandalon, um das zu trauern wäre, eher schon als Moment eines beinahe beiläufig hingenommenen Zeitenlaufs, garniert mit Durchhalteparolen einer amtlichen Rollenprosa ("So ist es eben, nun müssen wir kreativ sein…"). Unweigerlich kommt der Gedanke auf: Ist das nun der Beweis dafür, dass Kirche nun sogar selbst nicht mehr an sich glaubt? Mehr Selbstsäkularisierung geht kaum, als eine derart phantasielos vorgetragene Verstärkung des staatlicherseits verhängten Versammlungsverbots für gottesdienstliche Feiern. Spürt man denn überhaupt, was viele da vermissen?

Das Display einer Kamera zeigt einen Priester bei der Probe für einen Gottesdienst, der wegen des Coronavirus ohne Besucher Live gestreamt wird.
Bild: ©picture alliance/Christophe Gateau/dpa

Durch das Display einer Kamera sieht man den Berliner Dompropst Tobias Przytarski bei der Probe für einen Gottesdienst, der wegen des Coronavirus ohne Besucher Live gestreamt wird.

Glauben heißt Zusammenkommen – unvertretbar und notwendig

Eines muss doch existenziell unter die Haut gehen: Wenn der christliche Glaube von seinen biblischen Quellen her als eine endzeitliche Sammlungsbewegung zu begreifen ist, dann ist die Praxis dieses Glaubens eine Praxis des Zusammenkommens und Versammelns. Die Eucharistiefeier ist das Modell dafür in Zeit und Geschichte: Wenn wir Mahl halten, wie Jesus Mahl gehalten hat mit seinen Jüngern, erinnern und vergegenwärtigen wir das Heilshandeln Gottes an uns Menschen. Wir dürfen, wo wir uns in die Tradition der eucharistischen Mahlfeier stellen, Gottes Gegenwart, seine heilende und tätige Nähe als reale Wirksamkeit erhoffen. Aber das geht nicht ohne unser Handeln und die Gesten, Worte und Gebete, die gemeinsam das ausmachen, was Eucharistie sein will: Eine Praxis des Feierns, vollzogen von jenen, die diese Gegenwart Gottes wirklich ersehnen.

Die Krise unserer Zeit unterbricht auf brutale Weise diese Praxis eines Glaubens, der gefeiert werden will, und das ist ein Problem. Glaube doch keiner, Fernseh- und Radiogottesdienste könnten solches Feiern ersetzen. Ich bin altmodisch: Ich glaube wirklich daran, dass es der Kernvollzug des Christseins ist, in der Erinnerung Jesu zusammenzukommen, "dies zu seinem Gedächtnis zu tun" und darin seine Gegenwart erhoffen und vielleicht erspüren zu dürfen. Aber diese Hoffnung kann keine Theologie herbeiargumentieren, kein Lehramt feststellen, kein Internetprediger zusprechen. Das kann man nur leibhaftig-konkret, im gemeinsamen Vollzug gefeierter gottesdienstlicher Praxis ausdrücken, ja, inszenieren. Die Szene dafür aber hat man uns genommen.

Was ist angebracht in der gegebenen Situation? Kirche muss daran gelegen sein, den Menschen die nährende Speise ihres Gottes, seine im eucharistischen Mahl zugesprochene Gegenwart nicht vorzuenthalten. Eucharistie möglich machen – auch unter hygienepolizeilicher Einschränkung der Lebensräume, darum muss es doch jetzt gehen! Die Kirche kennt seit frühester Zeit eine angemessene Antwort auf die erzwungene Reduktion ins Private: es ist die Hauskirche, der Ort, "wo zwei oder drei zusammen sind in meinem Namen". Mit denen das Herrenmahl feiern, die nun Schicksalsgenossinnen und -genossen sind im Exil von Haus und Heim. Es dort feiern, wo das als eine gemeinsame Praxis auch wirklich möglich ist, anstatt Mitte und Höhepunkt des Glaubens zu delegieren oder zu konsumieren. Welcher Bischof oder Papst hat angesichts des geistlichen Mangels den Mut, das Sonderformular dafür herauszugeben, einmalig, gerade zu Ostern, aber verpflichtet dem einen, das uns allen zum Leben fehlt? Es ist vollkommen klar: Kanonisch und liturgierechtlich wäre das Neuland, das kultische Gedächtnismahl ohne Geweihten. Aber verlangt nicht der Notstand, in dem sich das Volk Gottes ohne Zweifel befindet, danach, über ungewöhnliche Schritte nachzudenken? Jetzt musst du blühen – so sagt es Angelus Silesius, der schlesische Dichter und Mystiker, ebenfalls im Angesicht einer – noch viel schlimmeren – Krise.

Blüh’ auf, gefrorner Christ, der Mai ist vor der Tür,
du bleibest ewig tot, blühst du nicht jetzt und hier.

(Cherubinischer Wandersmann, III/90)

Von Daniel Bogner

Der Autor

Daniel Bogner lebt in Münster und ist Professor für Moraltheologie und Ethik an der Universität Fribourg/Schweiz. Zuletzt ist von ihm erschienen: "Ihr macht uns die Kirche kaputt...doch wir lassen das nicht zu!" (Herder Verlag, 160 Seiten, 16 Euro).