Dogmatiker Buckenmaier über fehlende Gottesdienste und andere Versammlungen

Was vermissen wir Katholiken in der Corona-Krise wirklich?

Veröffentlicht am 28.03.2020 um 12:00 Uhr – Lesedauer: 
Debatte

Rom ‐ Nicht für alle Christen, aber doch für viele ist die Sonntagsmesse der Angelpunkt der Woche. Was passiert nun, wenn sie ausfallen muss? Was ist ihr Sinn? Und stehen wir wirklich ohne alles da, wenn die Kirche geschlossen ist? Der Dogmatiker Achim Buckenmaier gibt Hinweise für diese besondere Zeit.

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"Wohlan, Tage kommen, da sende ich einen Hunger ins Land, nicht einen Hunger nach Brot, und nicht einen Durst nach Wasser, sondern MEIN Reden zu hören." (Amos 8,11)

Das Wort des Propheten Amos, in der Übertragung von Martin Buber, hat eine kräftige Sprache. Jetzt, im März 2020, ist mit Händen zu greifen, dass diese Ansage Gottes kein bloß poetischer Bibelvers ist. Die Gottesdienste abgesagt, die Gemeindehäuser geschlossen, die Veranstaltungen abgeblasen... Hunger nach Brot ist nicht da, aber das, was man hatte und nun im Wortsinn einfach nicht mehr zugänglich ist – der Sonntagsgottesdienst, Taufen, Versammlungen, Treffen, die tägliche Messe – das fehlt. Das Ausmaß der Corona-Epidemie, aber auch die Auswirkungen auf das Leben als Christ lässt viele fragen, was dies alles bedeutet, was es uns sagt.

In seinem Werk "Über die Dörfer" zeigte der Nobelpreisträger Peter Handke schon 1981 in einem eindrücklichen Bild die Verödung der Dörfer und der Kirchen, die in ihrer Mitte leer stehen: "Hunde kommen in die Kirchen gelaufen und trinken die Weihwasserbecken leer...". Daran erinnern einen heute die wegen Infektionsgefahr geleerten Becken an den Kirchentüren. Rudolf Pesch, in den 80er Jahren Professor für Neues Testament an der Universität Freiburg, zitierte diese bizarre Szene in seiner Vorlesung. Er wollte uns Studenten aus unserem naiven pastoralen Optimismus aufwecken, hellhörig machen. Jetzt ist das aktueller denn je: War innerlich nicht schon lange der Punkt erreicht, dass die Kirchen verlassen blieben, bevor das Robert-Koch-Institut ihre Türen zumachte? Geht der Absage der Gottesdienste nicht schon seit langem ihre Geringachtung voraus?

Was vermissen wir wirklich?

Was ist das nun, das fehlt? Ganz schlicht: das Zusammenkommen. Papst Benedikt nannte das Christentum "ein soziales Charisma". Im Gegensatz zu den großen östlichen Strömungen der Religionen wie sie sich zum Beispiel im Buddhismus abbilden, war die biblische Offenbarung immer skeptisch gegenüber zu viel Spiritualität, zu viel Geist, Innerlichkeit, Versenkung, Gefühl und frommer Redseligkeit. "Chillen im Kräutergarten", "Work-Life-Balance nach Benedikt", "Quellentage für urlaubsreife Gottsucher", "das Glück der Gelassenheit" – alles Buchtitel oder Veranstaltungen in kirchlichen Häusern – sind eher billiger Abklatsch einer eigentlich ernsthaften Gottsuche. Vielleicht ist es gut, dass die Krise auch hier etwas bremst.

Dogmatiker Achim Buckenmaier
Bild: ©Privat

Achim Buckenmaier ist Professor für Dogmatik und Direktor des Stiftungs-Lehrstuhles für die Theologie des Volkes Gottes an der Päpstlichen Lateranuniversität in Rom

Das Judentum, mit dem der christliche Glaube beginnt, hat einen anderen Weg entdeckt: Das Tun der Weisung ist der Weg zur Erkenntnis Gottes. Gott bleibt ein Geheimnis, aber seine Gebote und seinen Willen können wir kennen. "Der Glaube besteht nicht darin, dass ich etwas über Gott weiß, sondern darin, dass ich etwas über meine Pflichten gegenüber Gott weiß." (M. Shashar)

Als Jude lebte Jesus in der jahrtausendalten Erfahrung seines Volkes und wusste, dass der Mensch für dieses anspruchsvolle Leben Weisung, Rat, Leitplanken braucht, vor allem Helfer, den Bruder, die Schwester. Thomas von Aquin benützt für Gnade einfach das Wort auxilium, "Hilfe". Die Gnade Gottes kann ich nicht wie einen Raumspray einatmen, sie sitzt auch nicht wie ein Gen in mir; sie kommt zu mir von außen, durch Menschen, die mein Leben mit mir teilen, die mir helfen müssen, die auf mich aufpassen, mich aufmuntern, mich korrigieren.

Der Weg der Versammlung

Hier beginnt der einzigartige Weg der Versammlung: "Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, dann geh und weise ihn unter vier Augen zurecht! (...) Hört er aber nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei mit dir, damit die ganze Sache durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werde. Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde! Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner" (Mt 18,15-17).

Das Schlüsselwort ist "Gemeinde". Im griechischen Original des Neuen Testamentes steht hier das Wort ekklesia. Es bedeutet konkrete Versammlung, Gemeinde, Kirche. Versammlungen spielen in der Bibel eine entscheidende Rolle. Die Sammlung von zwölf ganz unterschiedlichen Völkern zu einem Volk ist im Alten Testament als Wunder Gottes beschrieben, als Neuschöpfung einer Sache durch Gott, die gleichrangig neben der Erschaffung der Welt steht. Um Israel zu einem Volk zu einen und damit zu einem geeigneten Werkzeug in der Hand Gottes, brauchte es ein langes Ringen. Es geschieht nicht durch Zauberhand, sondern in unzähligen Versammlungen des Volkes. Ihre wichtigste und grundlegendste ist die Versammlung des Volkes am Sinai. Dort empfängt es sein Grundgesetz, die Tora, die Gebote, eine Ordnung für das Zusammenleben. Das wird so wichtig, dass der Tag des Bundesschlusses einfach "Tag der Versammlung" genannt werden wird. Präsent sind immer "Männer und Frauen und alle die, es verstehen konnten" – das wird zur einzigartigen Charakteristik des biblischen Volkes. Wie einen Refrain werden die biblischen Autoren, wenn sie von den Versammlungen Israels erzählen, diese Kennzeichnung wiederholen.

Ein Esstisch als Ort, wo Gott wohnt

Im Judentum lebte dies fort in den Synagogen, bis auf den heutigen Tag. Auch Jesus lebte und lernte darin. Aber neben dieser offiziellen Linie mit den Gottesdiensten in der Synagoge zieht sich eine zweite Spur fort in die jüdischen Häuser. Auch sie sind Orte der Gottesverehrung, der Weitergabe der Erfahrungen mit einem Leben nach Gottes Geboten. Auch diese Linie ist in die Lebensweise Jesu eingegangen, wenn erzählt wird, dass er mit gerade einmal zwölf Personen Pessach feiert; wenn von ihm das Wort überliefert wird: "wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind..."

Bild: ©KNA/Harald Oppitz

In einem jüdischen Haus sind die Eltern "Priester", wie hier bei der Feier des Sederabends zum Pessachfest bei einer Familie in Bonn.

Im jüdischen Haus sind Vater und Mutter "Priester", aber nicht um die Macht der Kleriker zu teilen und endlich ein "Amt" zu bekleiden, sondern weil sie die Glieder eines "heiligen Volkes von Priestern" sind, in dem Pflicht und Verheißung auf allen liegen. Besonders am Vorabend des Sabbat wird dies deutlich. Die verschiedenen Aufgaben sind zwischen Mann und Frau verteilt: die Kerzen anzünden, dazu ein Gebet sprechen, Brot und Wein segnen und austeilen. Ihr Haus, ihre Wohnung und das wöchentliche Fest am Tisch vermitteln Gottes Gegenwart, nicht nur beim Beten, sondern auch beim Essen, Trinken und Miteinander Sprechen: "Macht mir eine Wohnstätte, und ich werde unter euch wohnen" (Exodus 25:8).

Ein solcher Ort ist viel kleiner, viel unscheinbarer als etwas groß Organisiertes. Er erzeugt keine Reformpapiere, Manifeste und Forderungen. Sein Medium sind nicht Kanzel, Rednerpult und Mikrophon, sondern ein Esstisch. Es ist hilfreich, dass es heute die sozialen Medien gibt, Gottesdienstübertragungen, Livestreaming, Skype. Sicher, durch die Not der Epidemie machen die Pfarreien jetzt einen enormen Sprung in die digitale Welt.

Aber es gibt auch noch andere, reale Weise des Zusammenseins für diejenigen, die eh schon in einem Haushalt wohnen und leben. Ein Ehepaar erzählte mir, dass sie sich am vergangenen Sonntag die Texte des Gottesdienstes vorgelesen haben, Gebete, Lesungen, Psalm, Evangelium, das Vaterunser... dass sie Zeit dafür hatten, in aller Ruhe lesen und miteinander reden konnten. Eine Kerze auf dem Tisch und Blumen gab dem Ganzen einen kleinen festlichen Punkt. Das ist etwas anderes als romantische Zweisamkeit. In den biblischen Texten konnten sie am Küchentisch den großen Atem der Gottesgeschichte spüren. Das ist auch etwas ganz anderes, als das billige Motto: "Jetzt machen wir Kirche endlich selbst" oder: "Wir brauchen ja gar keine Priester und keine Kirche". Der Tisch dieser zwei oder drei braucht die große Kirche der Welt, und die universale Kirche bliebe eine Art fromme UNO, ein abstrakter Zusammenschluss, ohne solche Tische.

Drei, zwei und sogar einer

So ähnlich fanden sich die ersten Christen zusammen. Die Emmaus-Geschichte erzählt von gerade einmal zwei Jüngern, die am Tisch sitzen und erkennen, wer noch bei ihnen ist. Jeden Ostermontag wird diese Geschichte vorgelesen. Vielleicht hören wir sie dieses Jahr anders. Nur zwei, drei?! Ja, zwei, drei...! Kirchengebäude im heutigen Sinn für viele gab es wohl erst ab 200 nach Christus. Bis dahin waren es "Priszilla und Aquila und die Gemeinde, die sich in ihrem Haus versammelt" (Röm 16). Der Neutestamentler Hans-Josef Klauck nannte das Haus dieses wohlhabenden Unternehmerehepaares "ein mobiles Gemeindezentrum". Dreimal zogen sie um, verpflanzten ihre Firma für Planen und Zelte, um Paulus eine Wohnung und einen Arbeitsplatz anbieten zu können. Paulus berichtet auch von einem Herrn Gaius aus Korinth, der ihn und die ganze Gruppe in sein Haus aufgenommen hatte, und grüßt Frau Nympha in Laodizea und "die Gemeinde in ihrem Haus". Klauck sagt von dieser Form, auch in den Häusern zu beten und sich zu sammeln, dass sie der Baustein für eine "sich hausweise bildende Kirche" war.

Zwei oder drei "in seinem Namen" in einem Haus sind nicht die ganze Gemeinde und ihre sonntägliche Versammlung, aber sie sind Kirche. Ja, sogar eine einzelne Person, in einer solchen Situation, "ist" Gemeinde, "in der Stille ihres Hauses" (Ps 101), wenn sie – wie die Sakramententheologie weiß - ganz das tun will, was die Kirche tut. Den Mumpitz abstruser Vorschläge brauchen die Glaubenden nicht. Einen Gottesdienst am Fernseher oder im Internet mitzuverfolgen, ist gut. Mit der Kirche beten, die Schrift lesen und im übrigen ohne Angst und vernünftig leben, ist das andere. Als Getaufte, als einzelne, zu zweit und zu dritt oder mit den Kindern, sitzen sie an einem Tisch, an dem der Hunger, Gottes vernünftige und tröstende Rede zu hören, letztlich schon jetzt gestillt wird und gerade so das Verlangen, wieder Schulter an Schulter zusammen zu sein, unter uns wach bleibt.

Von Achim Buckenmaier

Der Autor

Der Autor ist Direktor des Lehrstuhls für die Theologie des Volkes Gottes an der Päpstlichen Lateran-Universität in Rom und Mitglied der Priestergemeinschaft der Integrierten Gemeinde.