Die Kirche braucht einen "Wiederaufbauplan" für die Zeit nach Corona
Die weitgehenden Ausgangsbeschränkungen waren noch nicht einmal eine Woche in Kraft, da wurden die Forderungen nach einer Exit-Strategie laut: Es müsse seitens der Politik klar gemacht werden, wie die – wohl schrittweise – Aufhebung der Einschränkungen vonstattengehen solle. Es müssten entsprechende Zeitpläne kommuniziert werden. Und es müssten Maßnahmen entwickelt werden, wie die Wirtschaft nach Corona möglichst schnell wieder an Fahrt gewinnen könne. Abgesehen davon, dass mit diesen Forderungen schier Unmögliches verlangt wird: Die Welt nach Corona wird sicher nicht mehr dieselbe sein wie davor.
Auch als Kirche müssen wir uns das überlegen. Die aktuell erfahrene – und erlittene – Unterbrechung des kirchlichen Lebens gibt allen Anlass dazu: Gottesdienste können nicht mehr stattfinden. Die Liturgie der Kar- und Ostertage fällt aus. Die Feiern des Lebens in Form von Sakramenten wie Taufe, Erstkommunion, Firmung, Eheschließung und Krankensalbung sind ausgesetzt. Die Begleitung von Tod und Trauer kann nur in mittelbarer und reduzierter Form stattfinden. Alle Formen von unmittelbarer menschlicher und geistlicher Gemeinschaft, die für das Leben einer Pfarrei prägend sind, sind derzeit suspendiert.
Die erzwungene Unterbrechung des alltäglichen pastoralen Wahnsinns mit der pausenlosen Hetze von einem Termin zum anderen kann auch heilsam sein, weil sie uns dazu nötigt, darüber nachzudenken, was denn für die Seelsorge wirklich notwendig ist und worauf wir gegebenenfalls auch verzichten können, selbst wenn es um Aktivitäten geht, die mit dem Argument "Das haben wir schon immer so gemacht" zum Kernbestand des Katholischen gehören.
Reaktionen der Priester zwischen rührend und bestürzend
In der aktuellen Krise sind Defizite klarer erkennbar geworden, wie etwa die Unfähigkeit oder die mangelnde Bereitschaft mancher Pfarrer, mit Rücksicht auf die jeweiligen Umstände in eigener Verantwortung Entscheidungen zu treffen; viele Anfragen bei bischöflichen Behörden aus diesen Kreisen kann man als rührend, mit Blick auf die geforderte eigene Verantwortung aber auch als bestürzend bewerten. Die beinahe ausschließliche Konzentration auf Fragen von Gottesdiensten und Liturgie macht deutlich, dass die pfarrliche Seelsorge weithin auf die Feier von Gottesdiensten und die Sakramentenversorgung reduziert ist und insofern die Bezeichnung "Seelsorge" gar nicht mehr verdient. Der Ausfall aller gemeindlichen Elemente, die meist von sogenannten "Hauptamtlichen" verantwortet werden, lässt deutlich erkennen, wie dünn, wenig belastbar und oft kaum bewusst das Netz des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen ist. Der reale Verzicht auf das gemeinsame Essen des eucharistischen Brotes fördert den in manchen Kreisen immer noch hochgehaltenen Vorschlag einer "geistigen Kommunion", die nicht nur am geistlichen Bedürfnis vieler Gläubiger vorbeigeht, sondern im Unterschied zum gemeinschaftsbetonten Liturgieverständnis des II. Vatikanischen Konzils einem rein individualistischen Ansatz folgt.
Die aktuelle Krise hat aber auch neue Chancen und Potentiale zu Tage gefördert, zum Beispiel: Die Entdeckung und Förderung anderer Gebets-, Gottesdienst- und Andachtsformen jenseits der Feier der Eucharistie. Die Möglichkeiten der neuen Medien für Verkündigung, Liturgie und – wenigstens virtuelle – Gemeinschaftsbildung. Die Bildung von virtuellen Gebets- und Meditationsgruppen. Die neue Wertschätzung von akustischen und visuellen Zeichen der Präsenz wie das Läuten der Kirchenglocken zu bestimmten Zeiten oder wie die brennende Kerze im Fenster, die das Fortbestehen lebendiger christlicher Gemeinschaft trotz aller äußeren Einschränkungen bekunden. Die Entdeckung, wie bedeutsam Familie und häusliche Gemeinschaft für das geistliche Leben sein können. Das Entstehen spontaner Hilfsangebote wie etwa von Einkaufshilfen für Personen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Das Nutzen der von Strukturen und Gremien freien Zeit für persönliche Telefonkontakte mit alleinstehenden, alten und kranken Menschen. Das fürbittende Gebet von Seelsorgerinnen und Seelsorgern oder von Ordensgemeinschaften mit der Möglichkeit, dass Gläubige eigene Anliegen per Mail oder Whatsapp oder Ähnliches einbringen. Der Wert einer offenen Kirche, die auch in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen zum Gebet und zur Gottesbegegnung einlädt und so weiter.
Irgendwann wird der Staat die strikten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen wieder aufheben können; vermutlich wird dieser "Exit" stufenweise erfolgen und möglicherweise noch länger dauernde Einschränkungen für die sogenannten "Risikogruppen" mit sich bringen, zu denen, allein schon aufgrund des Alters, der Großteil unserer regelmäßigen Kirchgängerinnen und Kirchgänger gehört. Wie werden wir als Kirche diesen "Exit" gestalten? Wie werden wir damit umgehen, dass Gruppen, die zur sogenannten "Kerngemeinde" gehören, länger als andere in ihren Sozialkontakten eingeschränkt sein werden? Ruft diese absehbare Situation nicht nach einer differenzierten Pastoral und danach, dass in unseren Pfarreien nicht alles über ein und denselben Kamm geschoren wird? Gerade in den immer größer werdenden Räumen der Seelsorge, in denen sich Seelsorgerinnen und Seelsorger oft nur mit Einheitsangeboten über die Runden retten können, dürfte die praktische Beantwortung dieser Frage bei allem guten Willen schwerfallen. Tatsächlich könnte sich aber die Notwendigkeit ergeben, einzelnen Gruppen einen Verzicht zuzumuten, um für andere qualitätvolle Seelsorge leisten zu können.
Die politische Planung einer Exit-Strategie und die Überlegungen für die Zeit nach Corona stehen in unlöslichem Zusammenhang mit grundlegenden Wertentscheidungen: Es geht einerseits um die Gesundheit der Menschen und um Lebensschutz, andererseits um das Funktionieren der Wirtschaft. Schon von Amts wegen steht beim Wiederaufbauplan von Minister Altmaier die Wirtschaft im Fokus. Im günstigsten Fall kommen beide Überlegungen angemessen zum Tragen.
Auch als Kirche brauchen wir eine Art "Wiederaufbauplan" für das kirchliche Leben und für die Seelsorge. Wer nur darauf wartet, dass er nach Corona wieder zur gewohnten Tagesordnung übergehen und weitermachen kann wie gehabt, der hat nicht begriffen, welche Chance in dieser Krisenzeit liegt: Die Kirche wird weiter bestehen, auch wenn all die Strukturen, Räte und Gremien, die Seelsorgerinnen und Seelsorgern oft einen Großteil der Zeit und der Energie abverlangen, für mehrere Wochen ihren Betrieb eingestellt haben. Können wir uns dann ehrlich, sozusagen aus der Distanz der Unterbrechung heraus, fragen, was damit den Gläubigen tatsächlich fehlt? Können wir den erlittenen Verlusten den nötigen Raum und die erforderliche Zeit der Trauer einräumen, um dann neue Perspektiven mit neuen Schwerpunkten zu entwickeln? Können wir nach all den Wochen erzwungener sozialer Distanz den besonderen Wert der unmittelbaren, persönlichen Seelsorge und Begleitung entdecken und leben, für die in Zeiten vor Corona oft kaum Zeit geblieben ist? Können wir die bisherigen, oft unreflektierten Selbstverständlichkeiten und Einseitigkeiten durchbrechen und pfarrliche Seelsorge neu nach den Maßstäben des Kirchenrechts (cc. 528-529 CIC) als umfassende Seelsorge unter Mitverantwortung aller Gläubigen konzipieren?
Die größte pastorale Baustelle
Die größte pastorale Baustelle dürfte allerdings der Wiederaufbau lebendiger und einladender kirchlicher Gemeinschaften sein, um den rein individuellen Zugang zum geistlichen Leben zu überwinden, der in diesen Wochen möglich ist. Grundlegend wäre daher an Art. 9, 1 der Kirchenkonstitution des II. Vatikanischen Konzils zu erinnern: "Gott hat es aber gefallen, die Menschen nicht einzeln, unabhängig von aller wechselseitigen Verbindung, zu heiligen und zu retten, sondern sie zu einem Volke zu machen, das … ihm in Heiligkeit dienen soll." Allen kirchlichen Handlungs- und Feierformen, die gemeinschaftsstiftend und -stärkend sind, kommt bei einem Wiederaufbauplan besondere Bedeutung zu, aber auch allen Initiativen, die die einzelnen Gläubigen befähigen und motivieren, sich als lebendige Glieder in unterschiedliche Gemeinschaftsinitiativen einzubringen, diese mit zu gestalten und in ihnen Verantwortung zu übernehmen.
Auch und insbesondere in den größer gewordenen pastoralen Räumen, wie phantasievoll immer diese bezeichnet werden, steht die Aufgabe an, Gemeinschaften von Gläubigen aufzubauen und die in den alten, verlorengegangenen Strukturen verharrende Kleinteiligkeit und Vereinzelung zu überwinden. Qualitätvolle zentrale Eucharistiefeiern, in denen die Gemeinschaft der Kirche wirklich erfahren werden kann, sind nur eine von vielen Möglichkeiten, den Wiederaufbau kirchlicher Gemeinschaft zu fördern. Diese Feiern könnten auch am ehesten dem kritischen Maßstab gerecht werden, den sich viele Gläubige in den Zeiten von Corona durch die Mitfeier von Fernseh- und Internetgottesdiensten erworben haben. Auch in diesem kritischen Maßstab liegt eine große pastorale Chance.