1920 nahmen Deutschland und der Heilige Stuhl diplomatische Beziehungen auf

100 Jahre Diplomatie: Als der Papst für Deutschland Partei ergriff

Veröffentlicht am 26.04.2020 um 11:50 Uhr – Lesedauer: 

Berlin ‐ Der Heilige Stuhl ist in der Politik ein gefragter Vermittler. Auch zu Deutschland gibt es diplomatische Beziehungen – und das seit genau 100 Jahren. Im Interview erklärt Kirchenhistoriker Stefan Samerski, wie es dazu kam und über welches Thema sich beide Länder heute besonders austauschen.

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Die Jahre nach 1920 waren grundlegend für das Verhältnis zwischen Deutschland und dem Heiligen Stuhl. Die Konkordate etwa, die in dieser Zeit ausgehandelt wurden, gelten bis heute. Mitgestaltet wurden sie vom damaligen Nuntius Eugenio Pacelli. Über sein Verhältnis zu Deutschland spricht der Berliner Kirchenhistoriker Stefan Samerski im katholisch.de-Interview. Außerdem verrät er, welche neuen Erkenntnisse er durch die Öffnung der Vatikanarchive über Pacelli, den späteren Papst Pius XII., erwartet. 

Frage: Herr Samerski, warum haben nahezu alle Länder der Welt diplomatische Beziehungen zum Vatikan? Eine große militärische oder wirtschaftliche Macht ist der Stadtstaat ja nicht.

Samerski: In den letzten Jahrzehnten hat sich herauskristallisiert, dass der Heilige Stuhl zwar natürlich in erster Linie das Oberhaupt der katholischen Kirche repräsentiert, aber darüber hinaus auch eine wichtige Drehscheibe für die internationale Kommunikation und Politik ist. Der Heilige Stuhl macht das größtenteils im Verborgenen und ist dadurch ein "ehrlicher Makler". Deswegen wird er von politischen Großmächten und sogar von islamischen Staaten akzeptiert, weil er beispielsweise in der Krisenregion Arabien keine geschäftlichen Interessen hat und man ihn deswegen für Vermittlerdienste heranziehen kann.

Frage: Wie ist diese Rolle des Heiligen Stuhls denn entstanden?

Samerski: Das hat sich im Prinzip im 19. Jahrhundert angebahnt, als er nach der deutschen Reichsgründung gegenüber dem Bismarck-Staat etwas in die Defensive geriet. Bismarck versuchte daraufhin, seinen Draht zum Heiligen Stuhl wieder zu verbessern, indem er Papst Leo XIII. anbot, im Streit zwischen dem Deutschen Reich und dem Königreich Spanien zu schlichten, als es um die Karolineninseln ging. Da fing es an, dass der Heilige Stuhl international als Schiedsrichter akzeptiert wurde – und das machte Schule. Deswegen war es möglich, dass der Heilige Stuhl im Ersten Weltkrieg Friedensinitiativen ausarbeiten konnte. Von da an wurde er zu einem großen internationalen Player, der mit äußerster Diskretion arbeitet, um Friedensverhandlungen nicht zu torpedieren.

Frage: Dieses diskrete Auftreten gehört also zum diplomatischen Handwerkszeug des Heiligen Stuhls?

Samerski: Zum einen das und zum anderen entsendet der Heilige Stuhl immer sehr akribisch und gut ausgebildete Diplomaten in alle Welt. Das Personaltableau des Heiligen Stuhls ist ja sehr viel größer als das eines Staates. Während in Deutschland zum Beispiel nur Deutsche Diplomaten und Botschafter werden, kann der Heilige Stuhl auch einen Inder, Australier oder Argentinier nehmen. Außerdem kommt der Heilige Stuhl mit ganz wenigen Leuten in seinen ausländischen Vertretungen aus. Die US-amerikanische Botschaft in Berlin hat beispielsweise weit über 1000 Mitarbeiter – der Heilige Stuhl fünf. Das kann ein Nachteil sein, macht die Vertretung aber auch weniger schwerfällig. Da wird entschieden und direkt umgesetzt.

 Michael Koch und Papst Franziskus
Bild: ©Vatican Media/Romano Siciliani/KNA (Archivbild)

Seit Oktober 2018 ist Michael Koch Botschafter der Bundesrepublik Deutschland beim Heiligen Stuhl.

Frage: Wie nimmt der Heilige Stuhl denn aktuell Einfluss, gerade hier in Deutschland?

Samerski: In den vergangenen sieben Jahren war der Heilige Stuhl sehr daran interessiert, dass Umweltfragen wie die Nachhaltigkeit und die Schonung der Ressourcen bevorzugt behandelt werden. Es ist kein Geheimnis, dass die Kanzlerin und der Heilige Stuhl teilweise persönlich, aber auch über das diplomatische Personal wie die deutschen Botschafter beim Heiligen Stuhl über diese Themen und auch die ökologische Orientierung des Heiligen Stuhls gesprochen haben.

Frage: Angefangen haben diese diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und dem Heiligen Stuhl vor 100 Jahren. Wie ist es denn dazu gekommen, dass diese Beziehungen gerade 1920 aufgenommen wurden?

Samerski: Mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 war vermutlich etwas mehr als ein Drittel der Bevölkerung katholisch. Die preußisch-berlinische Reichsregierung war allerdings protestantisch geprägt, sodass es immer gewisse Vorbehalte gegenüber der katholischen Kirche gab. Kurz nach der Reichsgründung brach außerdem der Kulturkampf aus, sodass auch hier nicht an diplomatische Kontakte zu denken war. Das änderte sich mit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Mit ihm kam es zu einem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs. Das machte den Weg frei für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit dem Heiligen Stuhl. Für die Verhandlungen zwischen Kirchen und Staat etwa bei Bischofsernennungen war bis 1920 die Nuntiatur in Bayern zuständig. Da diese Verwaltungsgeschäfte aber mit Verzögerungen und postalischen Umständen verbunden waren, brauchte man eine Stelle in Berlin. Außerdem wollte der Staat auf die nach dem Ersten Weltkrieg abgetrennten Gebiete vor allem im Osten Einfluss nehmen. Da diese größtenteils katholisch waren, brauchte man einen Vertreter der Kurie in Berlin. Darüber hinaus half der Heilige Stuhl in der Notsituation Ende 1918 und Anfang 1919, als in Deutschland Menschen verhungerten, mit Lebensmitteln und Medikamentenlieferungen.

Frage: Wie Sie bereits erwähnt haben, geht es bei der päpstlichen Diplomatie ja eigentlich gerade um politische Neutralität. Deutschland hat in den 1920er Jahren aber schon eine besondere Rolle in der Diplomatie des Heiligen Stuhls gespielt. Warum?

Samerski: Sie müssen sich vorstellen: Deutschland war nach dem ersten Weltkrieg eine total verfemte Macht. 1919 gab es keinen einzigen Diplomaten in Berlin, die Westalliierten haben mit deutschen Politikern gar nicht gesprochen. Der Papst war damit der einzige Aktivposten, der sich darum kümmerte, dass Deutschland wieder an politischem und wirtschaftlichem Boden gewinnt. Durch die Schwächung direkt nach dem Krieg haben Sozialisten die Räterepublik ausgerufen und in praktisch allen Teilen Deutschlands die Macht ergriffen. Der Heilige Stuhl wollte vermeiden, dass es in Deutschland so aussah wie in der Sowjetunion, wo Christen verfolgt und ermordet wurden. Deshalb wollte er die noch junge Weimarer Republik stabilisieren. Das erreichte der Heilige Stuhl vor allem im Kontakt mit England, um Milderungen für Deutschland zu erreichen und ganz konkret politisch für Deutschland Partei zu ergreifen.

Bild: ©KNA (Archivbild)

Eng verbunden mit dem Beginn der Diplomatie zwischen Deutschland und dem Heiligen Stuhl: der ehemalige Nuntius Eugenio Pacelli und spätere Papst Pius XII.

Frage: Eine besonders wichtige Figur war in diesem Zusammenhang Nuntius Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die Menschen in Berlin Pacelli mit einem Fackelzug verabschiedet haben, als dieser 1929 zurück nach Rom ging. Warum war er so beliebt?

Samerski: Pacelli ging sicherlich nicht leichten Herzens nach Berlin und hat seinen Umzug nach Berlin immer weiter hinausgezögert, selbst als er 1920 die diplomatischen Beziehungen mit der Berliner Reichregierung aufgenommen hatte. Er hatte schon ein wenig Angst vor dem protestantischen Umfeld dort. Erst 1925 ging er nach ausdrücklicher Aufforderung des Kardinalstaatssekretärs endgültig dorthin. Gerade vom politischen Berlin wurde er aber schnell als kluger und weiser Berater sehr geschätzt und er eröffnete sich auch durch seine brillanten Deutschkenntnisse viele Türen. Pacelli war in Berlin aber nicht nur aus Pflichtgefühl so agil, sondern hatte auch begriffen, dass die Stadt in den 1920er Jahren zu einer internationalen politischen Drehscheibe wurde, auf der er sich sehr gut bewegen konnte. Deshalb der Fackelzug, weil man wusste, dass man ein politisches Schwergewicht verliert.

Frage: Glauben Sie, dass Pacelli dadurch auch Verständnis für die Situation in Deutschland nach 1933 hatte, obwohl er zu dem Zeitpunkt schon gar nicht mehr Nuntius, sondern Kardinalsstaatsekretär war?

Samerski: Pacelli hatte keine großen Illusionen, wie es mit den Nationalsozialisten in Deutschland weitergehen würde – auch wenn er natürlich nicht alle Einzelheiten wusste. Die Programmschriften der Nationalsozialisten lagen auf dem Tisch und waren auch in Rom bekannt – und Rom versuchte, sie auf den Index zu setzen. Dabei hatte Adolf Hitler der katholischen Kirche gerade in den ersten Monaten noch größte Avancen gemacht, dass er die freundschaftlichen Beziehungen zur katholischen Kirche pflegen und das Verhältnis zum Heiligen Stuhl noch ausbauen wolle. Pacelli sagte, dass man in dieser Situation eine rote Linie brauche, die man nicht überschreiten dürfe. Das war das Reichskonkordat von 1933. Das war ein völkerrechtlich bindendes Abkommen, dessen Vertragsbrüche Proteste ausgelöst haben, die auch von der internationalen Presse aufgegriffen wurden. Darauf berief er sich.

Frage: Kürzlich wurden ja die Vatikanarchive zu Papst Pius XII. geöffnet. Erwarten Sie davon neue Erkenntnisse, gerade was sein Verhältnis zu Deutschland angeht?

Samerski: Das vatikanische Archiv wurde nur für eine Woche geöffnet und ist dann aufgrund der Corona-Krise wieder geschlossen worden. Viele deutsche Wissenschaftler sitzen darum gerade in Rom in Quarantäne und können weder vor noch zurück. Einen Großteil der diplomatischen Korrespondenzen aus dem Zweiten Weltkrieg hat der Heilige Stuhl aber schon ab den 1960er Jahren veröffentlicht. In dieser Aktenpublikation sind sicherlich die wichtigsten Stücke über die Linien der päpstlichen Politik drin. Ich glaube, der generelle Nenner ist relativ eindeutig und passt auch zu der Person Pius XII., sodass man mit keinen großen Überraschungen rechnen darf. Die Geschichte nach 1945 ist eine andere Sache. Da spielt der Heilige Stuhl auch ganz gewiss eine wichtige, bisher nicht erforschte Rolle, beispielsweise bei der Gründungsgeschichte der beiden deutschen Staaten.

Von Christoph Brüwer

Buchtipp

Stefan Samerski: Deutschland und der Heilige Stuhl. Diplomatische Beziehungen 1920–1945. Aschendorff-Verlag, Münster 2019, 270 Seiten, 24,80 Euro. ISBN: 978-3-402-13402-3