Die Kirchentradition sollte in der Krise helfen statt zu verbieten
In seinem Beitrag "Warum Do-it-yourself-Messen keine Antwort auf die Krise sein können" kritisiert der Dogmatiker Jan-Heiner Tück, dass aktuell Vorschläge gemacht werden wie "Wandlung per Bildschirm, eine Beichte per Telefon oder gleich priesterlose Hausgottesdienste". Er sieht in allen diesen Beiträgen den "Weg in frei flottierende, sektiererische Formen des Christentums" gegeben – und entgegnet mit dem Verweis auf die sakramentale Tradition der Kirche und die Bedeutung des ordinierten Amtes. In seinen Vorschlägen am Schluss, nämlich die Vielfalt der Gottesdienstformen zu fördern, ist ihm zuzustimmen. Mein eigener Beitrag, auf den Tück Bezug nimmt, war eine Reaktion auf die Regelungen der Gottesdienstkongregation und nachfolgend der Österreichischen Bischofskonferenz für die Karwochenliturgie. Da diese nicht als Gemeinschaftsfeier in der üblichen Form stattfinden kann, wurde eine Lösung gefunden, die es Bischöfen und Priestern erlaubt, diese Feiern notfalls auch alleine zu feiern.
Ich kritisiere in meinem Text, dass der Vorschlag, die Feier im kleinsten Kreis (Priester und 4 ausgewählte Personen) bei verschlossenen Kirchentüren zu halten, ein fatales Zeichen ist. Der Ausgangspunkt der Überlegungen liegt hier nämlich nicht bei den Nöten der Gläubigen, sondern bei den Möglichkeiten und Regeln für den Klerus. Und ich bringe überspitzt und ironisch ins Spiel, welche Wirkungen man medialen Übertragungen von Gottesdiensten überhaupt zutraut (was meines Erachtens noch tieferer theologischer Diskussion bedarf). Keineswegs plädiere ich für eine Hauseucharistiefeier ohne Priester.
Nicht richtig, ja sogar sektiererisch
Da mein Beitrag aus meiner Sicht von Tück missverständlich rezipiert und zitiert wird, soll im Folgenden klargestellt werden, worum es mir in dieser Diskussion geht: Der Ausgangspunkt ist die Coronakrise – und diese soll auf keinen Fall instrumentalisiert werden für Reformschritte. Die Menschen stehen aktuell vor existenziellen Fragen. Es geht um Leben und Tod, um Arbeitslosigkeit, um Zukunftsängste. Der wichtigste christliche Auftrag in diesem Moment ist Diakonie und Seelsorge – die Sorge um das auch und gerade innerweltliche Heil der Seelen im ganzheitlichen Sinne aller Menschen. Von daher müssen die Fragen nach dem theologischen Verständnis – zum Beispiel der Sakramente – im Horizont gestellt werden, ob und inwiefern sie den diakonalen Herausforderungen dienen.
Diskussionen laufen aktuell häufig so, dass auf grundsätzliche Gegebenheiten hingewiesen wird: die Tradition der Kirche, die sakramentale Struktur und ähnliches. Und von diesen Grundsätzen her wird argumentiert, dass manche pastoralen Vorschläge nicht richtig, ja sogar sektiererisch sind – so nicht nur der Vorwurf von Tück. Auch der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode ist für den Bonner Dogmatiker Karl-Heinz Menke laut einem Interview in der "Tagespost" faktisch ein Gnostiker, wenn dieser mit Blick auf die mögliche Frauenweihe sagt, dass Jesus "für uns Mensch, nicht Mann geworden" sei.
Doch geht meines Erachtens die Kritik von Tück in einigen Punkten ins Leere und zeigt selbst nochmals eines der aktuellen Probleme auf: die Konzentration auf den Klerus und ein Denken von der Tradition her für die Praxis – und nicht umgekehrt das Beantworten von aktuellen Fragen auch mit Hilfe der Tradition. Nicht die Frage "Was erlaubt die Tradition?" ist heute vorrangig, sondern: Was ist in dieser aktuellen Situation das Not-Wendende? Und wo kann da im Blick auf die Tradition Hilfe angeboten werden? Und schließlich: Was verändert sich auch an theologischen Gewissheiten durch eine solche Krise?
"Priesterlose Hausgottesdienste" werden angeprangert – dabei ist das hoffentlich die wünschenswerte Praxis: Dass Christinnen und Christen sich nicht nur in der Kirche, sondern auch daheim zum Gebet und Gottesdienst versammeln – sei es der Rosenkranz, das Tischgebet, das Morgen- oder Abendgebet. Hier entwickelt sich aktuell auch sehr viel Neues in Verbindung mit den Medien: die Öffnung des Hausgottesdienstes in der Verbindung mit anderen durch Videokonferenzen zum Beispiel. Ich behaupte nicht, dass die Agapefeier daheim gleichzusetzen ist mit einer Eucharistiefeier. Aber sie ist eine Möglichkeit, in guter biblischer Tradition zu feiern – und auf Jesu Gegenwart zu vertrauen.
Vor diesem Hintergrund ist meine Anfrage an die Gottesdienstkongregation und an Bischofskonferenzen gerichtet: Einen besonderen Rang im christlichen Leben nimmt die Feier der Mysterien von Tod und Auferstehung Jesu ein – die Karwochenliturgie. Seit und mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist das Verständnis gewachsen, dass hier nicht eine Liturgie "für das Volk" sondern "mit dem Volk" gefeiert wird, entsprechend dem Prinzip der "actuosa participatio".
Nöte werden mit rechtlichen Klärungen beantwortet
Ausgelöst durch die massiven Ausgangs- und Versammlungsbeschränkungen hat sich die Frage in vielen Ländern ergeben, wie denn nun diese Gottesdienste ohne Versammlung in der Kirche zu feiern wären. Ich hätte mir hier erwartet, dass Gottesdienstkongregation und Bischofskonferenzen zuerst auf das hingewiesen hätten, was in den kleinen Hausgemeinschaften möglich ist (und viele sind ja nicht zu viert, sondern wirklich auch ganz allein, wie auch ich selbst). Man hätte hier hinweisen können auf das gemeinsame Priestertum; auf die Möglichkeiten von Gottesdiensten, die man auch allein oder in kleinster Gruppe feiern kann (am Palmsonntag, am Karfreitag mit Kreuzverehrung etc.) – und dann in einem weiteren Schritt die Möglichkeit benennen, dass Priester stellvertretend auch Gottesdienste feiern, in kleinstem Kreis.
Die Gottesdienstkongregation beantwortet diese Nöte mit rechtlichen Klärungen – und benennt an erster Stelle das Recht von Bischöfen und Priestern, auch allein die Riten zu feiern. Die Gläubigen werden informiert, zu welcher Zeit die Priester feiern. Erst danach kommt auch der Verweis darauf, dass Hilfestellungen für die Feier daheim zur Verfügung gestellt werden. Doch dies scheint nachrangig.
Themenseite: Die theologische Debatte auf katholisch.de
Ob Missbrauchs- oder Corona-Krise, der Umgang mit Homosexuellen oder die Gleichberechtigung von Frauen: Wie steht es um die Gegenwart und die Zukunft der katholischen Kirche? Darüber diskutieren Theologinnen und Theologen regelmäßig auf katholisch.de.Hier geht es nicht um eine "Revolution", sondern um ein Ernstnehmen der Praxis des Gottesvolkes. Der Leiter einer Caritaseinrichtung hat uns dazu geschrieben: Sie erleben zurzeit Erschütterndes. Weinende Menschen am Telefon, die von ihrem Chef gezwungen wurden, ihre Kündigung zu unterschreiben, ohne Ersparnisse, ohne Rücklagen. Hungernde, die buchstäblich nicht mehr wissen, was sie am nächsten Tag essen sollen. Ausständige Mieten am Monatsende, die nicht mehr bezahlt werden können. Trauernde, denen das letzte soziale Netz zerrissen ist. Und er ergänzt: "Und dann bekomme ich den Newsletter der Diözese mit den Hauptinhalten zu Triduum, Ostern, Absage von Firmungen, rechtliches zu den offenen Kirchen. Deutlicher kann man gar nicht mehr sagen, dass man sich entschlossen hat, die Kirchentüren von innen zuzuschlagen."
Das ist der Hintergrund für die Kritik an den vorgeschlagenen Regelungen – die voll in der Tradition der Kirche stehen mögen, aber keine wirkliche seelsorgliche Hilfestellung für die Menschen darstellen. Um mich nicht misszuverstehen: Für viele sind die angebotenen Fernsehgottesdienste und das Wissen, dass irgendwo ein Priester für sie feiert, sicher hilfreich. Und es entwickeln sich aktuell tolle Angebote von Videokonferenzen. Was ich jedoch als Zeichen für fatal halte, ist die Anweisung: Bitte schließt die Kirchentüren, schickt mögliche Andächtige aus der Kirche raus – und feiert mit höchstens fünf Personen dann die Mysterien der Karwoche.
Ist Jesus auch in privaten Feiern gegenwärtig?
Und schließlich ist die Frage, welche Bedeutung solche privaten Feiern zu Hause haben. Klar, es sind keine öffentlichen Feiern (wobei in den Bestimmungen für die Karwoche jetzt auch steht: "nicht-öffentliche Gottesdienste"!). Aber kann ich absprechen, dass dort Jesus als gegenwärtig erfahren wird? Meine Kollegin am Institut für Praktische Theologie in Wien, Regina Polak, hat mich diesbezüglich auf einen spannenden Punkt hingewiesen: Im 17. Jahrhundert hat Papst Innozenz XII. (1615-1700) die Pilgerreise, die anhand der bildlichen Darstellung den christlichen Leidensweg Christi nachvollzieht (also den Kreuzweg), mit der Pilgerfahrt nach Jerusalem im Hinblick auf die Vergebung der Sünden für gleichwertig erklärt!
Nochmals zum Ausgangspunkt: Es geht mir um die Valenz und das Ernstnehmen menschlicher Erfahrungen. Konkrete Erfahrungen der jeweiligen Zeit haben immer wieder auch zu einem veränderten theologischen Verständnis geführt. Die Frage wird sein: Und was verändert sich theologisch angesichts dieser Krise, die aus so vieler Hinsicht einmalig ist? Die wahren Dramen spielen sich aktuell ja nicht in der Liturgie ab, sondern bei den Ärmsten, in den Flüchtlingslagern, in jenen Ländern, deren Gesundheitssystem nicht so gut ausgerüstet ist wie in den meisten westlichen Ländern. Hat das einen Einfluss auf unser Feiern, jenseits einer Karfreitagsfürbitte?