Standpunkt

Wir kapitulieren vor dem Tod

Veröffentlicht am 24.04.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Nicht erst seit Corona habe die Gesellschaft das Sterben zum absoluten Feind erklärt, kommentiert Pater Klaus Mertes. Doch dadurch werde dem Tod eine Macht zugeschrieben, die mit der Osterbotschaft eigentlich überwunden sein sollte.

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Im Ersten Korintherbrief heißt es: "Tod, wo ist dein Sieg, Tod, wo ist dein Stachel?" (1 Kor 15,55). In der Parallelstelle bei Hosea (13,14) heißt es sogar: "Tod, wo sind deine Seuchen, Unterwelt, wo ist dein Stachel?" Von diesem Osterjubel höre ich in den gegenwärtigen Debatten nichts. Vielmehr werde ich das Gefühl nicht los, dass wir – mit Tunnelblick auf den täglichen Todes- und Infektionsticker – vor dem Tod kapitulieren. Vor der Angst, infiziert zu werden. Vor der Schuldangst, andere zu infizieren. Wir sperren Kinder weg, weil sie gerne miteinander raufen und tollen. Wir traumatisieren eine Generation von Jugendlichen mit Schuldangst. Wir verschärfen die Bildungsungerechtigkeit. Wir intervenieren nicht bei häuslicher Gewalt. Wir lassen Menschen alleine sterben. Wir heben mit einem Federstrich alle Inklusionsstandards in Wohnheimen für Menschen mit Behinderung auf. Wir lassen zu, dass Menschen auch an den Folgen von Corona-Schutzmaßnahmen sterben. Wir machen einen Riesenbogen um Obdachlose. Wir zwingen Schwache, Opfer zu bringen. Wir brüllen Alte an, wenn sie nicht zu Hause bleiben.

Damit es klar ist: Ich bin dafür, dass Risikogruppen vor Infektion geschützt werden. Ich bin ebenfalls der Meinung, dass der Staat eine Verantwortung für ein funktionierendes Gesundheitssystem trägt. Und selbstverständlich hat die Politik das Recht, einer Bevölkerung zum guten Zweck Einschränkungen zuzumuten. Aber was jetzt global geschieht, ist mehr als das. Kampf gegen das Sterben kann auch dem Tod Macht über das Leben geben. Und es ist wirklich ein Zeichen der Zeit, dass das Sterben zum absoluten Feind erklärt wird – nicht erst seit Corona. Im Silicon Valley wird ernsthaft versucht, die Todesschwelle mit Biotechnologie und Cyborgs nach hinten zu verschieben oder gar ganz zu überwinden. Die Intensivmedizin führt an ähnliche Grenzen: Ärzte erleben den Tod von Patienten als persönliche Niederlage. Anwälte klagen gegen Ärzte, die das Sterben nicht verhinderten. Und was ist in diesen Tagen von Anwälten zu halten, die Anzeige wegen "fahrlässiger Tötung" gegen Altersheime erstatten, in die das Virus eingedrungen ist?  Da führt der virologische Tunnelblick in die Sackgasse.

Das Sterben gehört zum Leben dazu. Wenn wir es aus dem Leben vertreiben wollen, nimmt das Leben selbst Schaden. Eine kleine Szene geht mir nicht aus dem Sinn: Auf einem leeren Spielplatz steht ein kleiner Junge und weint. Drei bewaffnete Polizisten haben sich vor ihm aufgebaut. Sie nehmen die Personalien seiner Mutter auf. Tod, da ist dein Stachel. Seuche, da ist dein Sieg.

Von Pater Klaus Mertes

Der Autor

Der Jesuit Klaus Mertes ist Direktor des katholischen Kolleg St. Blasien im Schwarzwald.

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt nicht unbedingt die Meinung der Redaktion von katholisch.de wider.