Kolumne: Mein Religionsunterricht

Für das Leben lernen wir – nicht von Corona

Veröffentlicht am 08.05.2020 um 16:32 Uhr – Lesedauer: 

Bonn/Trier ‐ Der plötzliche Wechsel ins Digitale stellt Elisabeth Maximini-Kirchen und ihre Schüler nicht nur vor das Problem, dass sie nicht wie üblich kommunizieren können. Dass manche sagen, man könne etwas von Corona lernen, findet die Lehrerin deshalb zynisch.

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Ich bin ja jetzt nur noch digital unterwegs. Mit Lernplattformen und Live-Schaltungen. Was noch vor ein paar Monaten undenkbar war, ist nun ganz schnell Alltag geworden. Heute Morgen habe ich eine Videokonferenz gehalten mit einem meiner Religionskurse. Damit das gelingt, versuche ich die Themen einzuschieben, die man zum einen selbst daheim alleine vorbereiten und dann in unseren Liveschaltungen diskutieren kann. Und da sind wir schon beim Problem des heutigen Morgens.

Ich schalte mich zu und nach und nach "ploppen" die kleinen Fenster auf, die meine Schülerinnen und Schüler in ihrem Zuhause zeigen. Zum Teil sehe ich nur das Kinn, manche liegen im Bett eingekuschelt, eine hat Augenpads unter den Augen aufgeklebt und dann laufen auch manchmal fremde Menschen durch das Bild. Es ist schon amüsant. Los geht’s!

Was los geht, ist ein schnödes PingPong-Match. Will heißen. Eine Frage von mir. Ping. Eine Antwort zurück. Pong. Stille. Nächste Frage. Und neben den amüsanten Einblicken bleiben auch viele Kameras aus. Wenn meine Schüler also etwas sagen wollen, schalten sie ihr Mikro an. Aber ohne das Gesicht zu sehen, fühlt es sich an, als ob sie vor der Tür stehen und dem Unterricht lauschen würden.

Unzufriedenheit auf beiden Seiten

Ich sehe keine Mimik. Weder bei denen, die die Kamera anhaben und schon recht nicht bei den anderen.

Ich sehe keine Interaktion zwischen Schülern. Wie sehr würde ich mir gerade wünschen, wenigstens welche miteinander über das letzte Wochenende tuscheln zu sehen. Geschweige denn, Austausch über Aussagen. Ich sehe kein Interesse oder fragende Blicke. Denn zu diesem Zustand kommt es auch im üblichen Unterricht erst nach einem Warm-up und wenn man mitten im Thema ist. Ich sehe gerade keinen Sinn mehr darin.

Meine Schüler berichten mir in diesen Zeiten von massiver Überforderung mit der Situation. Unterricht digital in dieser extremen Form ist eben noch nie ausprobiert worden. Und nahezu alleine daheim das Lernen zu organisieren auch nicht. Und ich dachte, dass das schon klappen wird, über aktuelle Themen und Fragen vielleicht. Ich freue mich, dass erste Schritte zur Digitalisierung endlich angegangen werden. Auch wenn es zwangsweise geschieht.

Nutzen für den Religionsunterricht?

Im Vorfeld dieser – und vieler anderer Videokonferenzen und Arbeitsaufträge – habe ich überlegt, was diese Pandemie für Fragen aufwerfen könnte. Ohne eine Meinung und ein Urteil dazu äußern zu wollen, fasste ich zusammen: Themen wie Solidarität, Freiheit, Resilienz und ethische Urteilsbildung. Bedeutet Solidarität am Fenster zu klatschen, auf Instagram über die schlechte Bezahlung bestimmter Berufsgruppen zu debattieren oder Gutscheine beim Lieblingsitaliener zu kaufen?

Was bedeutet persönliche Freiheit? Im Denken, der Urteilsbildung? Die Freiheit zu tun, was ich will (mit oder ohne Mundschutz? Mit oder ohne andere?) Oder meine Freiheit dort enden zu lassen, wo eine andere berührt wird? Wie soll ich mich zu Äußerungen positionieren? Die Gesundheit von Risikopatienten schützen und die Kurve flach halten oder die Mehrheit, die Wirtschaft, meine eigenen Interessen als Maß der Dinge zu nehmen? Darf ich mich über wiederkehrende Delfine in Venedig freuen oder sollte ich mich über aussetzende Hilfs- und Medikamentenlieferung nach Afrika aufregen?

Was für ein Fundus an Anschlussthemen für den Religionsunterricht! Vermeintlich.

Bild: ©KNA/Jean-Matthieu Gautier (Symbolbild)

Die Situation belastet nicht nur Lehrerin Elisabeth Maximini-Kirchen, sondern auch ihre Schüler.

Die Themen sind das eine. Aber was gerade viel aktueller ist:

Da ist der Schüler, der völlig unerwartet einen Elternteil verliert. Das ist eine Situation, in der meist die Klasse gemeinsam darüber nachdenkt, wie sie dem Betroffenen ihr Beileid ausdrücken kann. Wir überlegen dann, was wir tun können, um die Rückkehr in den Unterricht zu erleichtern. Aber jetzt?

Da ist der Schüler, der an den letzten beiden Videokonferenzen nicht teilgenommen hat. Obwohl er sich immer so engagiert einbringt. Er passt auf seine kleinen Geschwister auf, weil die Kita geschlossen ist und die Mutter arbeiten muss. Was soll er sonst tun?

Ich habe Schüler, die keine Möglichkeit haben, ins Internet zu gehen und keinen PC besitzen. Sie sind dadurch ausgeschlossen. Auch wenn sie die Materialien zugeschickt bekommen. So schnell ist man ein struktureller Außenseiter.

Nicht jeder Schüler hat noch Eltern. Ich habe einige, die aus unterschiedlichen Gründen alleine leben (müssen). Egal, welche Themen angeboten werden. Dabei hilft ihnen niemand.

Und. Was mir den Hals zuschnürt. Da sind die Schüler in prekären Verhältnissen. Die sich sichtlich wohlfühlen, nicht zuhause zu sein, sondern in der Schule. Unter Menschen, die sie schätzen. Sie sitzen jetzt zuhause. Ohne Kamera bei Konferenzen. Wenn sie überhaupt zu erreichen sind. Wir kennen die Situation. Und wir können nichts tun.

Wir können nichts "von" Corona lernen

Aktuell lese ich oft Überschriften in der Art: "Was uns Corona lehrt" oder warum die Pandemie auch ihr Gutes hätte. Bitte nicht. Ich finde das in Anbetracht der prekären Lage vieler Leidtragender und Betroffener zynisch. Diese Pandemie wirft nicht nur Themen auf, sie führt mir vor Augen, auf was es im Unterricht – und für mich aus der Perspektive meines Fachs –, dem Religionsunterricht, wirklich ankommt.

Ich verstehe Religionsunterricht so: "Menschwerdung" als Thema zu haben, heißt auch das Setting zu geben, dass Menschen sich zu mündigen, kritischen und vernünftigen Individuen entwickeln können. Mensch zu werden. In einem Schutzraum Schule. Wenn er digital bleibt, dann müssen wir ganz schnell lernen, was es braucht, um wirkliche Bildungsprozesse und -räume zu ermöglichen, ohne dass unsere Schülerinnen und Schüler auf der Strecke bleiben.

Denn nicht "von" Corona lerne ich: Die Pandemie verdeutlicht mir nur, dass es auf mehr ankommt als auf Themen und Arbeitsaufträge. Wir leben in Beziehung. Und wir lernen in Beziehung.

Von Elisabeth Maximini-Kirchen

Die Autorin

Elisabeth Maximini-Kirchen ist Religionslehrerin an einer berufsbildenden Schule in Trier.

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