Brauchtum und Corona: Schützenwesen ist mehr als das Bier an der Theke
Die Karnevalisten hatten Glück, ihre Umzüge fanden vor den Beschränkungen wegen der Ausbreitung des Coronavirus statt. Doch an die vielen Schützenfeste im Sommer ist nicht zu denken. Das ist eine bittere Nachricht für viele Schützenbruderschaften, weiß Horst Thoren. Er sitzt im Präsidium des Bundes der deutschen historischen Schützenbruderschaften, der Dachorganisation von katholischen Schützenbruderschaften in Deutschland und glaubt, dass eine Reihe von Vereinen dieses Jahr nicht überstehen werden.
Frage: Die Schützenfeste fallen landauf, landab aus. Wie nehmen Sie die Stimmung unter den Schützen wahr?
Thoren: Das ist eine Mischung aus Traurigkeit und der Einsicht, dass es nicht anders geht und wir vernünftig sein müssen. Brauchtum ist Herzenssache und die persönliche Begegnung eine Kernfunktion des Brauchtums. Da schmerzt es natürlich sehr, wenn man Freunde nicht mehr sehen und treffen kann und das Miteinander durch die Corona-Krise und die notwendigen Beschränkungen gestört ist.
Frage: Kümmern sich die Schützen jetzt um Ersatzveranstaltungen oder nehmen sie dieses Jahr als bewusste Pause wahr?
Thoren: In Bezug auf die traditionellen Schützenfeste stellt dieses Jahr tatsächlich eine Pause dar. Aber dann feiern wir halt nächstes Jahr: Der amtierende König darf sich auf das nächste Jahr freuen und alle seine Schützen mit ihm. Das ist aber nur das Fest. Bruderschaft und Schützenwesen sind aber mehr als fröhliches Feiern an vier oder fünf Tagen. Das Miteinander ist wesentlich für den Zusammenhalt. Wären wir nur ein Feierverein, hätte die Verbundenheit ein Ende. Deshalb stellt sich für jede Gemeinschaft die Frage: Wie erfinde ich mich in diesen Zeiten neu oder wie kann ich mich auf Kernaufgaben besinnen, die Bruderschaft und Brauchtum insgesamt haben? Die soziale Funktion drückt sich auch im Feiern aus, aber sie ist mehr als das gefeierte Schützenfest. Es heißt jetzt, neue Aufgaben etwa im sozialen Bereich zu suchen oder sich bekannten Aufgaben verstärkt zu widmen: im Miteinander, in der Sorge um Alte, Kranke, Familien und Bedürftige, um einsame Menschen. Deshalb ist es ganz wesentlich, neue Formen des Miteinanders und der Kontaktpflege zu finden, damit die Bindung bestehen bleibt.
Frage: Welche neuen Formen sind das denn konkret?
Thoren: Das kann zum Beispiel Nachbarschaftshilfe sein, indem man für Ältere oder Kranke einkaufen geht. Das kann aber auch heißen, ein wenig Freude zu bringen, sich mit ein paar Musikern vor ein Altenheim zu stellen und dort eine kleine Serenade zu spielen. Selbst ein Einzelner kann sich irgendwo aufstellen und "Tochter Zion" anstimmen, in dem es ganz prominent heißt: "Freue dich". Das sendet ein entsprechendes Signal aus. Wir müssen einerseits Präsenz zeigen und andererseits die Tradition und das christliche Bewusstsein leben. Das Schützenwesen ist (vor allem in den westdeutschen Bistümern) sehr katholisch angebunden. Die Bruderschaften übernehmen deshalb etwa bei den Kirchenöffnungen Aufgaben wie den Ordnungsdienst oder unterstützen die Kirchen im sozialen Tun.
Frage: Die Gemeinschaftspflege zu Corona-Zeiten ist schwierig; eine Videokonferenz ist mit einem realen Treffen nicht vergleichbar. Welche neuen Wege haben Schützen für die Gemeinschaftsbildung gefunden?
Thoren: Wenn Schützen zwar nicht feiern können, aber zum Festtermin ihre Fahnen an die Häuser hängen, dann ist das ein Zeichen nach außen, aber auch nach innen an das Wir-Gefühl. Natürlich lassen sich wirkliche Begegnungen durch Videokonferenzen nicht ersetzen, aber wichtiger als das gegenseitige Zuprosten an Stammtisch oder im Festzelt ist die Frage, ob man sich gegenseitig wahrnimmt und weiß, was den jeweils anderen bewegt. Ich habe festgestellt, dass selbst traditionellste Kreise jetzt in den sozialen Medien unterwegs sind und dass sich in solchen Chats etwas entwickelt, was man sich nicht hätte vorstellen können. Dort wird Kommunikation und Austausch gepflegt. Das Miteinander spielt da eine weiterhin große Rolle – unabhängig vom Alter.
Frage: Trotz aller Ersatzveranstaltungen ist ein ausgefallenes Schützenfest keine Kleinigkeit. Sehen Sie da auch eine Gefahr für das Brauchtum?
Thoren: Wenn der Zusammenhalt groß ist und die Gemeinschaft innere Stärke besitzt, wird man dieses Jahr überstehen. Es kann sogar dazu dienen, dass man sich der Werte und Traditionen etwas mehr bewusst wird. Dieser "Vermissens-Faktor" drückt auch die Bindung aus: Wenn ein ganzer Ort merkt, wie schade es ist, dass es dieses Jahr kein Schützenfest gibt, dann stärkt das das Brauchtum. Dann freut man sich umso mehr auf das nächste Jahr und es wird klar, was das Wichtige an diesem Fest ist: Nicht das Bier an der Theke, sondern das Miteinander. Es wird aber auch eine Reihe von Vereinen geben, die dieses Jahr nicht überstehen. Die waren dann sowieso schon angeschlagen, weil sie nicht die Kraft gefunden haben, sich neu zu erfinden oder neu zu orientieren. Da ist Corona dann nicht der Grund für das Ende, sondern der Anlass, sich aufzulösen.