Karol Wojtyla kam vor 100 Jahren zur Welt

Johannes Paul II.: Ein Jahrhundertpontifikat mit schwierigem Erbe

Veröffentlicht am 18.05.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Kaum ein Pontifikat in der jüngeren Kirchengeschichte prägte die Kirche so sehr wie seines: An diesem Montag wäre Johannes Paul II., der "Jahrhundertpapst", 100 Jahre alt geworden. Seine historische Bedeutung gilt als unbestritten – dennoch beurteilen viele Beobachter sein Vermächtnis zwiespältig.

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Als am 2. April 2005 spätabends und vor abertausenden Zuschauern auf dem Petersplatz die Nachricht vom Tod Papst Johannes Pauls II. verkündet wurde, war sich die globale Öffentlichkeit schnell einig: Hier hat gerade eine Jahrhundertpersönlichkeit die Weltbühne verlassen. Kein Wunder, schließlich war sein Pontifikat mit über 26 Jahren nicht nur das zweitlängste überhaupt, sondern auch eines der ereignis- und gestenreichsten, zumindest in der jüngeren Kirchengeschichte. Der Papst aus Polen war über ein Vierteljahrhundert eine wichtige Konstante im oft unübersichtlichen Weltgeschehen dieser Epoche – selbst, als die Spuren seiner Parkinsonerkrankung immer deutlicher wurden.

An diesem Montag jährt sich die Geburt Karol Wojtyłas – so sein bürgerlicher Name – zum 100. Mal. Schon im Vorfeld häuften sich die Würdigungen. Die Deutsche Bischofskonferenz betonte, die Eckdaten seines Pontifikats ergäben das "Gesamtbild eines außergewöhnlich kraftvollen Mannes, der Denker, Politiker, Seelsorger und Gottesmann zugleich war". Laut Papst Franziskus, seinem Nach-Nachfolger, wies das Leben Johannes Pauls II. sogar märtyrerhafte Züge auf. Und geht es nach der Polnischen Bischofkonferenz, soll der 2014 bereits Heiliggesprochene bald zum Kirchenlehrer und Patron Europas ernannt werden. Die historische Größe Johannes Pauls II. gilt als unbestritten – dennoch wird sein Wirken durchaus zwiespältig betrachtet. Gerade die theologische Wissenschaft diskutiert kontrovers über sein Vermächtnis.

Vordenker der Religionsfreiheit

"Wenn man diesem Pontifikat gerecht werden will, muss man dessen Schwerpunkte einzeln in den Blick nehmen", betont der Augsburger Kirchenhistoriker Jörg Ernesti, ein Experte für die jüngere Papstgeschichte. Zweifellos hat Johannes Paul II. der Kirche einige entscheidende Impulse gegeben und ihr den Weg ins dritte Jahrtausend gewiesen. Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil, an dem er zunächst als Weihbischof und schließlich als Erzbischof von Krakau teilnahm, gehörte er zu den Vordenkern der Erklärung "Dignitatis humanae" über die Religionsfreiheit. Er war der erste Papst, der eine Synagoge besuchte, und lud 1986 die Religionsführer aus aller Welt zu einem Friedenstreffen nach Assisi ein. "Ich persönlich sehe sein größtes Verdienst darin, dass er es geschafft hat, die Religionen auf einen gemeinsamen Einsatz für den Frieden zu verpflichten", sagt Ernesti. Johannes Paul II. habe die vatikanische Außenpolitik sozusagen auf theologischer Ebene fortgeführt.

Tief ins Bewusstsein hat sich die mediale Inszenierung Johannes Pauls II. eingeprägt. "Wenn man sich heute Aufzeichnungen seiner großen Auftritte anschaut, dann fällt immer noch die Virtuosität auf, mit der er mit den Massen kommuniziert hat. Das hat kein anderer vor ihm so gekonnt", findet Ernesti. Gleichzeitig beherrschte er auch die Kunst der kleinen Gesten. Die Weltjugendtage machte er zu internationalen Großereignissen. Auch wenn die Digitalisierung der modernen Welt in den vergangenen 20 Jahren rasant fortgeschritten ist, gilt Johannes Paul II. nach wie vor als der Medienpapst schlechthin.

Papst Johannes Paul II. in Polen
Bild: ©KNA-Bild/KNA (Archivbild)

Johannes Paul II. begrüßt bei seiner ersten Polenreise als Papst im Jahr 1979 die Menschen im Marienwallfahrtsort Tschenstochau.

Nicht nur, aber auch durch diese Inszenierung wurde der Papst aus Polen in der öffentlichen Wahrnehmung zu einer der zentralen Figuren, die den Zerfall des Kommunismus in den Ostblock-Staaten herbeigeführt haben. Der sozialistische Machtapparat habe vor Johannes Paul II. gezittert, sagt der Kirchenhistoriker Ernesti und erinnert sich dabei besonders an einen Besuch des Pontifex in Polen: "Ich habe noch die Fernsehbilder vor Augen, wie er vom völlig verunsicherten General Jaruzelski empfangen wurde." Anders als seine Vorgänger, die eine eher konziliante Linie gegenüber den dortigen Machthabern fuhren, setzte er im Austausch mit den sozialistischen Staaten auf Prinzipienfestigkeit und Klarheit – vermutlich auch deshalb, weil er das System aus eigener Anschauung kannte. In seinem Heimatland unterstütze er ausdrücklich die freie Gewerkschaft Solidarnosc und stärkte damit das moralische Rückgrat seiner Landsleute. Die Ideologie des Kommunismus verwirft Johannes Paul II. auch dezidiert in seinen Sozialenzykliken – allerdings weist er darin den Kapitalismus ebenso in seine Schranken.

Johannes Paul II. hat der Kirche in vielen Bereichen ein reichhaltiges Erbe hinterlassen. Doch zahlreiche Beobachter sind sich einig: Manche Entscheidungen seiner Amtszeit hätten sich als schwere Hypothek erwiesen. Heftig debattiert wird seit langem über seinen Umgang mit der sich während seiner Amtszeit bereits anbahnenden Missbrauchskrise. Obwohl er nach dem Bekanntwerden der ersten Fälle aus den USA Anfang der 2000er die kirchlichen Rechtsnormen beim sexuellen Missbrauch verschärfte, werfen ihm Kritiker vor, die Auswirkungen des Skandals unterschätzt zu haben. Der Journalist Matthias Drobinski sagte kürzlich anlässlich des Erscheinens seiner Biografie über den Wojtyła-Papst: "Unter dem Strich war für ihn eine starke, unverwundbare Kirche wichtiger als der Blick auf die Opfer."

Harte Linie gegen "Abweichler"

Es ist wohl nicht bloß als reine Spekulation abzutun, dass Karol Wojtyła wegen seiner leidvollen Erfahrungen mit der Nazi-Besatzung Polens und der kommunistischen Ideologie der Kirche nur als geschlossenes Bollwerk eine Überlebenschance einräumte – und das als Papst schließlich einforderte. So ist auch sein rigides Verhalten gegen "Abweichler" aus den eigenen Reihen erklärbar. In Lateinamerika setzte er gezielt Bischöfe ein, die der Befreiungstheologie, die aus seiner Sicht zu marxistisch gefärbt war, fernstanden. Gleichzeitig wurde bei Bischofsernennungen die Position zur Sexualethik, besonders die Ablehnung der künstlichen Empfängnisverhütung, zum zentralen Kriterium bei der Auswahl. Auch die Wissenschaft, besonders die Moraltheologie, litt an der Erwartung strikter Konformität gegenüber der päpstlichen Lehre. "Dass Moraltheologen die Lehrerlaubnis verweigert oder entzogen wurde, wenn sie in der Sexualethik nicht 'auf Linie' waren, hat die ganze Disziplin lahmgelegt", sagt der Kirchenhistoriker Ernesti.

Doch je mehr Johannes Paul II. auf die strikte Befolgung der von ihm definierten Lehraussagen pochte, umso weniger wurden sie in vielen Regionen der Weltkirche rezipiert: Das resümieren die beiden Theologen Magnus Striet und Stephan Goertz im Vorwort ihres gerade erschienenen Sammelbands, der sich mit den Auswirkungen des Pontifikats Johannes Pauls II. auf die Kirche auseinandersetzt. "Das der Kirche von ihm verordnete Gegengift absoluter Wahrheitsansprüche ist eine der großen Hypotheken dieses Pontifikates. Die Verkündigung der Lehre wird starr und legt die Kirche in Fesseln, weil sie deren Geschichtlichkeit missachtet", heißt es darin. Die "Übersteigerung formaler Autorität", mit der Johannes Paul II. in vielen Fragen die kirchliche Lehre definiert habe, hinterlasse nach wie vor eine Ratlosigkeit, wie mit diesen Festlegungen umzugehen sei.

Bei der Seligsprechung von Papst Johannes Paul II. am 1. Mai 2011 auf dem Petersplatz in Rom wird eine Tapisserie mit einem Porträt des Papstes aus Polen am Petersdom enthüllt.
Bild: ©KNA (Archivbild)

Papst Johannes Paul II. wurde 2011 selig- und 2014 schließlich heiliggesprochen.

In seinem eigenen Beitrag für den Sammelband geht der Freiburger Fundamentaltheologe Striet sogar noch einen Schritt weiter: Er spekuliert, ob die Theologie Johannes Pauls II., die in unzählige lehramtliche Texte, das Kirchliche Gesetzbuch von 1983 und schließlich in den Römischen Weltkatechismus Eingang fand, nicht faktisch dazu führte, dass die katholische Kirche heute in immer mehr heterogene Milieus auseinanderzufallen drohe – wenn sie das nicht schon sei. "Sein theologisches Denken hat in der Orientierungsphase nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil in den innerkirchlichen Suchbewegungen maßgeblich dazu beigetragen, dass die Auseinandersetzungen schärfer wurden." Das führt Striet schließlich zu der Frage, ob sich das von Johannes Paul II. vertretene Lehramt letztlich sogar selbst entmachtet habe, weil seine Denkfiguren im Bereich der Sexualmoral viele Menschen nicht mehr überzeugt hätten.

Der Fundamentaltheologe vermutet, dass die bis heute anhaltende Verehrung des polnischen Papstes vor allem dadurch funktioniere, dass seine Theologie praktisch ignoriert wird. "Je stärker das Pontifikat Johannes Paul II. aufgrund der Härte nach Innen inhaltlich in eine Krise geriet, und je klarer es wurde, dass er im Vergleich zu den sich demokratisierenden und in Geschlechterfragen und solchen der Sexualmoral umorientierenden Gesellschaften eine katholische Gegenwelt vertrat, umso intensiver musste seine charismatische Ausstrahlung über seine Persönlichkeit […] organsiert werden", bilanziert Striet.

Die Kirche scheint mit seiner Heiligsprechung ihr Urteil über Johannes Paul II. bereits gefällt zu haben. Doch für eine gerechte historische Bewertung seiner Person sei der zeitliche Abstand zu seinem Tod – gerade einmal 15 Jahre – noch zu gering, ist der Kirchenhistoriker Jörg Ernesti überzeugt. Dafür sei die Amtszeit Johannes Pauls II. auch zu komplex und schwer auf einen Nenner zu bringen. Gerade weil in dessen Person unverkennbar progressive, zukunftsweisende Züge konservativen, autoritären gegenüberstünden, enststehe ein ungutes Gefühl, wenn manche den polnischen Papst zum Kirchenlehrer ernennen wollen. "Als Historiker würde ich sagen: Überlassen wir dieses Urteil der Geschichte."

Von Matthias Altmann