Liturgiewissenschaftler über öffentliche Gottesdienste in Corona-Zeiten

Stuflesser: Kein Bischof verordnet böswillig "eucharistische Diät"

Veröffentlicht am 19.05.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die Corona-Krise macht etwas mit der Liturgie, stellt der Würzburger Theologe Martin Stuflesser im katholisch.de-Interview fest. Einerseits bringe die Notlage kreative neue Formen hervor. Gleichzeitig müssten aber auch die Risiken der wieder erlaubten Gottesdienstbesuche klar benannt werden. Denn die könnten im schlimmsten Fall das Leben kosten.

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Durch die Corona-Krise lernten manche Christen den Wert von Gottesdiensten wieder neu zu schätzen, beobachtet der Liturgiewissenschaftler Martin Stuflesser. Gleichzeitg sieht er die Kirche in einem Lernprozess, wie angesichts der Corona-Einschränkungen würdige öffentliche Gottesdienste gefeiert werden könnten. Auch die gesundheitlichen Risiken müssten klar thematisiert werden. 

Frage: Herr Stuflesser, fällt es Ihnen persönlich schwer, unter den aktuellen Bedingungen – also mit Maske und Desinfektionsmittel – Gottesdienst zu feiern?

Martin Stuflesser: Ich bin als Priester im Bistum Würzburg tätig und hier werden derzeit noch keine öffentlichen Messfeiern angeboten, andere Gottesdienste aber schon. Die Situation ist also ein wenig anders als in den meisten anderen Bistümern. Es ist zunächst einmal wichtig, dass man Äpfel nicht mit Birnen vergleicht und nicht die normalen ästhetischen Maßstäbe einer Eucharistiefeier an die zurzeit gefeierten Gottesdienste anlegt: Niemand wird behaupten, dass die momentane Situation die optimale Feiergestalt ist. Die derzeitige Feier der Liturgie, besonders der Eucharistie, wird durch die hygienischen Vorgaben bestimmt, die die Corona-Pandemie mit sich bringt. Die entscheidende Frage ist, ob die Zeichenhaftigkeit der Liturgie derart konterkariert wird, dass man sie nicht mehr angemessen feiern kann. Das wäre der Fall, wenn Menschen im großen Stil von den Gottesdiensten ausgeschlossen würden oder die Form der Kommunionspendung mehr als merkwürdig anmutet. Um das beurteilen zu können, wird man jetzt erst mal ganz praktische Erfahrungen sammeln müssen. In den meisten Kirchengemeinden gibt es deshalb ein "Fahren auf Sicht". Viele Priester, die ich kenne, haben schon nach den ersten Gottesdiensten die gemachten Erfahrungen einfließen lassen und Änderungen an der konkreten Ausführung vorgenommen.

Bild: ©Privat

Martin Stuflesser ist Professor für Liturgiewissenschaft und Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Würzburg. Er ist Priester des Bistums Mainz und Berater der Liturgiekommission der Deutschen Bischofskonferenz.

Frage: Um was für Änderungen hat es sich da gehandelt?

Stuflesser: Etwa bei der Kommunionspendung werden derzeit verschiedene Dinge ausprobiert, die im Rahmen der liturgischen Vorgaben möglich sind. Da geht es oft um ganz praktische Fragen: Wie und wann desinfizieren sich Vorsteher und Kommunionhelfer die Hände? Werden Gummi-Handschuhe verwendet? Gibt es einen zusätzlichen Spritzschutz, wie die Plexiglasscheiben im Kölner Dom? Die örtlichen Räumlichkeiten sind zudem überall anders: Einige Kirchen haben feste Bänke, andere eine Bestuhlung, sodass sie nur einen Stuhl herausnehmen müssen, um den Mindestabstand herzustellen. Jeder liturgische Ort muss neu erkundet werden unter der Frage: Wie können wir hier ganz konkret Gottesdienst feiern? Zudem gibt es eine gewisse "Kleinstaaterei". In jedem Bistum und Bundesland gelten etwas andere Vorschriften und Regelungen. Es ist daher sehr wichtig, dass den Gläubigen noch deutlicher als bisher erklärt wird, warum welche Maßnahmen getroffen wurden.

Frage: Wie kann Liturgie derzeit weiterhin würdig gefeiert werden? Was ist besonders wichtig?

Stuflesser: Man muss zunächst auf die Gläubigen schauen und sich fragen, was sie vermisst haben. Ich kriege mit, dass viele sehr dankbar für die vielfältigen liturgischen Angebote sind, die im Internet gestreamt wurden – gerade an den Kar- und Ostertagen. Aber auch für die Abläufe der Hausgottesdienste, die in vielen Seelsorgereferaten erarbeitet wurden. In den letzten Monaten sind in diesem Bereich viele neue Formen entstanden. Doch was die Leute sicherlich am meisten vermissen, ist der Kontakt untereinander im Gottesdienst. Viele ältere Menschen, mit denen ich ins Gespräch komme, berichten von einem gewissen Gefühl der Vereinsamung, sie wollen überhaupt mal wieder Gemeinschaft erfahren, weil sie oft allein leben. Gerade bei der Generation 70 plus erlebe ich da einen sehr vernünftigen, nüchternen Umgang mit der Corona-Thematik. Sie fragen sich ob der Risiken, ob sie schon jetzt zu den öffentlichen Gottesdiensten gehen sollten. Eine Frage wäre dann, ob der Wunsch nach gottesdienstlicher Gemeinschaft nur über die Eucharistie befriedigt werden kann, denn ab der Gabenbereitung bringt sie erschwerte hygienische Anforderungen mit sich. Da liegt es nahe, eher mit Wort-Gottes-Feiern oder einfachen Andachten die Rückkehr ins liturgische Leben zu beginnen, praktische Erfahrungen zu sammeln und dann nachzujustieren.

Frage: Aber vielen Gläubigen fehlt besonders die Messfeier. So hatten junge Katholiken vor einigen Wochen in kurzen Videos Bischöfe in aller Welt dazu aufgerufen, "ihnen ihre Heilige Messe wiederzugeben"…

Stuflesser: Ich merke bei allen, die zuvor regelmäßig in die Messe gegangen sind – ganz gleich aus welchem kirchenpolitischen Lager sie stammen –, dass ihnen jetzt etwas Wichtiges fehlt. Viele würden gerne mal wieder in Gemeinschaft zusammen ein Vater unser beten, mal wieder kräftig zusammen ein Osterlied singen, jemandem den Friedensgruß geben und natürlich auch die Eucharistie feiern. Aber die Bischöfe und Pfarrer haben den Gläubigen die Eucharistiefeier ja nicht etwa mutwillig verweigert. Sie mussten in der Corona-Pandemie auf eine extreme Ausnahmesituation reagieren. Kein Priester oder Bischof setzt die Gläubigen böswillig auf eine "eucharistische Diät". So etwas zu behaupten käme einer Verschwörungstheorie gleich. Umgekehrt, denke ich, brauchen wir auch den  Respekt vor der Mündigkeit jedes getauften Christen: Letztlich liegt es im Ermessen des Einzelnen, ob er sich dem Risiko einer Ansteckung aussetzt oder nicht. Auf diese Gefahr muss offener als bisher hingewiesen werden, doch es gibt dieses Restrisiko natürlich auch beim Einkauf im Supermarkt. In der Corona-Pandemie müssen wir ständig abwägende Entscheidungen treffen.

Frage: Das bringt eine hohe Verantwortung für die Kirchengemeinden mit sich, die wieder Gottesdienste anbieten…

Stuflesser: Es muss klar kommuniziert werden, dass sich Menschen in einem Gottesdienst möglicherweise anstecken könnten und im allerschlimmsten Fall auch daran sterben. Wer in die Kirche zum Gottesdienst geht, hat ein höheres Risiko, sich mit dem Corona-Virus anzustecken, als der Gläubige, der den Gottesdienst zuhause auf dem PC oder im Fernseher mitfeiert. Aber ebenso klar ist: Es gibt derzeit keinen Bereich in der Gesellschaft, in dem wir dieses Restrisiko ausschließen können.

Bild: ©epd/Robert Boecker

Im ersten Gottesdienst nach der Lockerung der im Zuge der Corona-Pandemie erlassenen Kontaktbeschränkungen wurde die Kommunion am 3. Mai 2020 im Kölner Dom unter Plexiglasscheiben hindurch an die Gläubigen ausgegeben.

Frage: Zwei Diözesen gehen einen anderen Weg als die anderen Bistümer: Im Bistum Magdeburg finden bis auf Weiteres keine öffentlichen Gottesdienste statt. Im Bistum Würzburg sind Messfeiern derzeit nicht erlaubt, sollen aber in einigen Tagen wieder gefeiert werden dürfen. Sind die Entscheidungen dieser Bistümer verantwortungsvoller als die der anderen Diözesen?

Stuflesser: Ich traue jedem Bischof sowie jedem Pfarrer und Pastoralteam zu, dass sie nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Die deutschen Bistümer sind zudem sehr unterschiedlich: Ein ländliches Diasporabistum ist etwas anderes als wenn Sie eine überwiegend städtische Struktur haben, wie im Bistum Essen. Auch die Personalsituation, Alters- und Gemeindestrukturen spielen eine Rolle bei dieser Entscheidung. Gibt es überhaupt genug Leute zur Durchführung der Corona-Maßnahmen? Bischof Feige hat seine Entscheidung auch mit dem oft hohen Alter seiner Diözesanpriester begründet, die zu einem großen Teil zur Hochrisikogruppe gehören. Das fand ich sehr anrührend und verantwortungsvoll, denn ein Bischof hat natürlich auch eine Fürsorgepflicht für sein Personal. Aber ich kann auch verstehen, dass andere Bischöfe aufgrund vernünftiger Abwägungen angesichts der Situation in ihren Bistümern zu anderen Entscheidungen gekommen sind. Ich fände es jedoch traurig, wenn es innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz so wäre, wie es derzeit in der Politik zu sein scheint, dass sich die Ministerpräsidenten als Landesfürsten gebärden und sich in einen Öffnungswettbewerb hineinsteigern. Man sollte davon ausgehen können, dass sich die Bischöfe wenigstens untereinander über die Gründe für ihre Entscheidungen austauschen. Es ist für den Liturgiewissenschaftler natürlich aufschlussreich, wie die unterschiedlichen Konsequenzen aus der Situation liturgie- und sakramententheologisch begründet werden. Wobei ich auch glaube, dass es da nicht die eine falsche oder richtige Antwort gibt. Es ist letztlich eine Abwägung zwischen den corona-bedingten staatlichen Vorgaben, dem Wunsch die anvertrauten Gläubigen zu schützen, sowie dem Recht der Getauften auf den Empfang der Sakramente und dem Bewusstsein, dass Kirche aus der Feier der Sakramente lebt. Eine größere Ehrlichkeit brauchen wir auch bei den Fristen, wann wieder Normalität in den Gottesdiensten herrschen kann, denn das hängt davon ab, wann es ein Medikament oder einen Impfstoff gegen Covid19 geben wird.

Frage: Wird die Feier von Gottesdiensten unter Corona-Bedingungen die Zukunft der Liturgie prägen?

Stuflesser: In den letzten Tagen und Wochen haben viele Gläubige die Liturgie bewusster mitgefeiert und reflektiert. Viele stellen sich grundlegende Fragen: Warum feiern wir Liturgie überhaupt und was bedeutet sie uns? Die Dinge, die man nicht mehr hat, merkt man deutlicher – Johann Baptist Metz hat das "Vermissungswissen" genannt. Die Kirchen werden nach der Corona-Pandemie zwar nicht rappelvoll sein, denn das waren sie auch vorher nicht. Aber die Gläubigen werden sich in dieser Krise sehr genau ansehen, was sie für ihr geistliches Leben brauchen, was ihnen guttut und sie in ihrem Christsein bestärkt. Das kann der gestreamte oder Fernsehgottesdienst sein, aber auch ein völlig freies liturgisches Format. Dieses Thema behandeln wir gerade in einem kurzfristig anberaumten Seminar an der Fakultät. Ich fände es sehr schade, wenn die derzeit in der Liturgie freigesetzte Kreativität später wieder versanden würde. Ich wünsche mir, dass vieles von dem, was jetzt an wunderbaren neuen Dingen entstanden ist, weiter fortbesteht – aber auch, dass wir in Zukunft genauer hinschauen, wie wir Gottesdienst feiern.

Von Roland Müller

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