Dogmatiker Hans Joachim Sander über Sytsemrelevanz und Selbstrelativierung

Wo findet sich die Kirche im gestärkten Staat wieder?

Veröffentlicht am 01.06.2020 um 12:40 Uhr – Lesedauer: 
Debatte

Salzburg ‐ Die weltweite Corona-Krise zeigt zwei Varianten des Staates: die sich sozial kümmernde, vertreten etwa durch Angela Merkel; und die liberalistische, für die Donald Trump oder Jair Bolsonaro stehen. Die Kirche muss sich nun entscheiden, auf welcher Seite sie steht – mit allen Konsequenzen, schreibt der Dogmatiker Hans-Joachim Sander auf katholisch.de.

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In den Versuchen, die Corona-Pandemie zu bewältigen, ist einerseits eine Wiederauferstehung des Staates als Matrix für eine gesellschaftliche Organisation zu sehen, die allen anderen überlegen ist. Andererseits wird der Kirche ein Distinktionsverlust zugemutet, nicht länger wirklich systemrelevant zu sein. Das geht aber nicht nur der Kirche so; auch weitere zivilgesellschaftliche Größen fallen stark zurück. So geht die Krisenzeit nicht zuletzt über prophetischen Protest hinweg, der vor Kurzem noch hohe Zustimmungswerte erfuhr wie der jugendlichen Charme der Fridays for Future. Auch bei aktiven Wirtschaftsführern ist Fehlanzeige. Sie sind abgemeldet, treten lediglich als Bittsteller für Corona-Hilfen oder irrlichternd mit Dividendenausschüttungen auf.

Aber es ist auch so, dass der Papst wie alle anderen globalisierten Religionsführer schwächelt; ihre sonst durchaus gern gehörten warnenden Worte werden zwar vermeldet, aber lösen kaum Resonanz aus. Religion und ihre Gemeinschaftsrituale sind schließlich weltweit ein erheblicher Ansteckungsfaktor, der kaum unterschätzt werden kann. Angesichts dessen kommt die Frage nach der Systemrelevanz von Kirchen sowieso etwas unselig daher.

Zwischen Angela Merkel und Donald Trump

Die globalen Stars der Pandemie-Bewältigung sind dagegen weibliche Regierungschefs wie Angela Merkel, die auf Sicht agieren und dabei ständig auch zur Selbstkorrektur bereit sind. Sie und einige ihrer Kolleginnen werden weltweit respektiert. Die gegenteiligen Affekte von Rechtspopulisten und in Verschwörungskreisen auf sozialen Medien können sie für die überwältigende Mehrheit nicht madig machen. Das wird auch so lange bleiben, wie Ansteckungszahlen vergleichsweise niedrig bleiben und danach sieht es derzeit aus. Demgegenüber rangieren ihre männlichen Antitypen Donald Trump und Jair Bolsonaro, aber auch Boris Johnson weit unten im Respekt. Unfähigkeit und Sprunghaftigkeit in der Pandemie-Bekämpfung kann auch das dreisteste Selbstlob oder die eigene Betroffenheit vom Virus nicht wegdrücken.

Hinter dieser Differenz verbirgt sich mehr als die Popularität von Politikerinnen und Politikern. Wir sind Zeugen eines Vorgangs elementarer Strukturierung, welche von zwei Modalitäten die Renaissance des Staates bestimmen wird. Das trifft die Kirche unmittelbar, weil sie sich entscheiden muss, ob sie sich auf der einen oder der anderen Seite platzieren soll. Eine dritte oder gar neutrale Position in wohliger Distanz steht der katholische Kirche seit den Missbrauchsskandalen nicht mehr zur Verfügung; auch wenn sie schon zuvor nur noch gut gepflegte Fassade war.

Dogmatiker Hans-Joachim Sander
Bild: ©Privat

Hans-Joachim Sander ist seit 2002 Professor für Dogmatik an der Universität Salzburg.

Im Streit stehen eine liberalistische und eine sozial sich kümmernde Variante, die sich derzeit zudem auch noch zwischen dem EU-Bereich des europäischen Festlands und der anglo-amerikanischen Welt aufteilen. Der liberalistische Modus reduziert effektives staatliches Handeln zugunsten von Privatisierungen in allen Lebensbereichen. Dieser Modus muss entsprechende Krisen möglichst schnell vergessen machen und Normalisierungen viel Platz verschaffen; es gilt, möglichst der Erste und der Beste zu sein. Die Schicksale der weniger Glücklichen in diesem Prozess werden mal mehr, mal weniger achselzuckend als unvermeidlich hingenommen. Auf der anderen Seite steht eine Modalität von Staat, die seine Macht sozial und wirtschaftlich mit massiven Vorleistungen beansprucht, um der sonst verheerenden Krise widerstehen zu können. Dieser Variante darf kein Aufrechnen der Kosten der mehr Betroffenen für die weniger Betroffenen zulassen; es geht zugleich um alle wie um jede einzelne Person. Dafür muss diese Staatsvariante in der Krise außerordentliche Zumutungen erheben, die auch vor Grundrechten nicht Halt macht, was aber mit unvermeidlichen Selbstdisziplinierungen der Bevölkerung abgefedert wird. Auch in den Lockerungen geht es nicht darum, der oder die Erste zu sein; es gilt der Dreischritt "abwaschen, Abstand, abwarten".

Für die Kirche sieht die erste Variante von Staat eine Privatisierungsgrammatik vor, mit der sie Religion an einem ihr zur eigenen Souveränität überlassenen Ort jeweils so ausbauen kann, wie es ihr passt und nützt, so lange das die Normalität transzendental und spirituell unterfüttert. Hier lässt sich Religion zum gewinnbringenden Geschäftsmodell derer ausbauen, die sie öffentlich beherrschen und bestimmen. Die zweite Variante verlangt dagegen eine religiöse Primäroption für die Allgemeinheit, die gerade auch für eine Kirche, die keinen Anspruch auf Systemrelevanz mehr vertreten kann, Opfer bedeutet, und sich nicht mit einer dann eben langfristig gesteigerten Macht auszahlt. Dieser Modus nötigt dazu, den Ausnahmefall religiös zu begleiten und selbst das Außerordentliche zu aktivieren, das in ihren Riten, Mythen und Symbolen vorhanden ist.

Die verlorene Systemrelevanz der Kirche wird übermalt

Die Intuition der Religionsgemeinschaft Kirche setzt natürlich auf das Platzierungsangebot der ersten Variante; damit lässt sich durchaus die strukturelle Kränkung einer verlorenen Systemrelevanz übermalen. Sie darf dann auch mal lauthals fordern, wenn es im gegebenen Rahmen bleibt. Kirche erscheint wieder souverän und kann sich weiter in alle Lebensbereiche einmischen. Allerdings wird die Kirche von der Pastoralgemeinschaft, zu der sie in den letzten Jahrzehnten ebenfalls geworden ist, in die zweite Variante hineinbugsiert, wo sie sich dann nach dieser Krisenzeit einen erheblich komplexeren Ort als zuvor wird suchen müssen. Sie kann sich nicht einfach in das Leben der Menschen einmischen, sondern muss es mit ihnen teilen. Hier kann sie nicht lauthals fordern, wohl aber muss sie dafür gerade stehen, was sich dabei eingraviert.

Für lange Zeit existierten diese beiden Varianten in der Kirche nebeneinander und gerieten nur bei Besetzungen von Bischofsstühlen aneinander. Die Parallelisierung löst sich nun auf. Die Krise nötigt dazu, sich zu entscheiden, und sich nicht weiter entlang dieser Front zu tribalisieren. Das ist für die Kirche ungewohnt. Aber sie kann nicht ausweichen und wird entweder die Privatisierungslinie übernehmen oder sich in den Rahmen des um Pastoralmacht verstärkten säkularen Staates einstellen. Selbst ihre Traditionen helfen ihr da nur sehr bedingt, weil sie noch vom Privileg der Kirche auf Heil ausgehen und auf die pastoralmächtige Form der säkularen Gouvernementalität nicht geeicht sind.

Die erste der beiden Varianten von Staat wird ökonomisch befeuert vom Neoliberalismus, dem nun aber der Schwung für eine so weit wie möglich deregulierte Globalisierung abhandengekommen zu sein scheint. Deshalb suchen die Protagonisten ihr Heil in Renationalisierung, Protektionismus und gesellschaftlichen Homogenisierungen, die unliebsame Zuwanderer ausschließt. In diese neoliberal-protektionistische Gouvernementalität lagern sich Kaperungen durch Superreiche an, die durch eine brisante Melange mit denen politisch schlagkräftig werden, die sich mit prekären Lebensumständen ebenso allein gelassen wie abgehängt fühlen und deshalb den urbanen Eliten misstrauen. Ihre Koalition erhofft sich eine angeblich gute alte Zeit zurück, nicht zuletzt in den troubles der Geschlechterverhältnisse und natürlich erweitert um die neuen digitalen Möglichkeiten für globale Überwachung und Beeinflussung zu Lasten anderer. Internationale Verpflichtungen, zwischenstaatliche Organisationen oder transnationale Staatenverbünde müssen von dieser Variante entweder beherrscht, bedroht oder verlassen werden.

Die Kirche lernt erst in der Krise den Lebensraum des Menschen kennen

In der Corona-Krise geht es darum, sowohl das Wohl des individuellen Subjektes als auch der Gemeinschaft im Blick zu haben. Dem Staat gelingt das aktuell besser als der katholischen Kirche, glaubt der Dogmatiker Hans-Joachim Sander. Warum das so ist, schreibt er im Gastbeitrag für katholisch.de.

Der andere Modus wird genau von solchen Organisationsformen jenseits der Nationalstaaten befeuert wie der EU, wenn man den Brexit schon abzieht. Auch hier ist Schwung verloren gegangen, weil nicht überall den Versuchungen von renationalisierter autoritärer Herrschaft widerstanden wurde. Dennoch wird der übernational vernetzte Staat wieder stärker, weil nur das eine Ökonomie mit massiver Atemnot wieder auf die Beine bringt. Die Finanzmärkte können das nicht; sie haben keine Intensivstationen für taumelnde Unternehmen auf breiter Front. Diese Gouvernementalität wird in Kontinentaleuropa daher künftig weniger neoliberal werden; wie weit sie sich strikt sozialmarktwirtschaftlich entwickelt oder doch lieber autoritär auftrumpft, muss sich noch entscheiden.

Zwischen diesen beiden Modi entscheidet sich der Ort der Kirche in der sich nun schnell verändernden Welt. Einen dritten Weg gibt es nicht. Eine Präferenz für die marginalisierten Regionen und ihre Bewohner, so geboten sie bei bestimmten Themen theologisch bleibt, wird ihr das nicht ersparen. Weder in Lateinamerika noch in Afrika oder Asien gibt es einen dritten gesellschaftlichen Weg. Alle Versuche sind gescheitert oder stecken in autoritären Regimes fest, welche die Lage der Marginalisierten nicht verbessern. Auch das macht die Corona-Krise ernüchternd deutlich. Der postkoloniale Anspruch ist stark in der Analyse, dass "Europa nicht mehr das Gravitationszentrum der Welt bildet" (Achille Mbembe), aber führt nicht zum Aufbau eines alternativen Zentrums. Vielmehr ist offenbar die Zeit der Zentren vorbei, so dass in der Differenz über die beiden Modalitäten auch über die anderen Regionen mit entschieden wird.

Stigmatisierung des Un-Wahren und Un-Guten erscheint weiterhin attraktiv

Bei der Privatisierungslogik des liberalistisch auftretenden Staates kann eine Kirche darauf bestehen, tun und lassen zu können, wie sie es eben souverän entscheidet. Dann ist Religionsfreiheit ein Vorrecht, das die Religionsgemeinschaft beansprucht. Das ist für das eher traditionalistisch vernetzte Segment in der Kirche durchaus attraktiv; denn nur bei dieser Logik hat es eine Chance, die (bloß mehr binnenkirchliche) Macht zu erringen, in deren Kontaktzonen es sich bei den früheren Pontifikaten schon wähnte. Eine solche Kirche wird eine rigide Sexualmoral wie in der guten alten Zeit propagieren, aber sie nun gegen all die säkularen Relativierungen halten, zu denen sich die Allgemeinheit verschworen hat. Das verhindert ihre Nichtbeachtung zwar nicht, aber die Stigmatisierung des Un-Wahren und Un-Guten erscheint weiterhin attraktiv. Sekundiert wird das von neuen geistlichen Gemeinschaften, die sich dem noch stärker unterwerfen müssen, weil sie die Nähe ohne Abstand nicht werden halten können, die ihre Erfolgsmeldungen eines immer intensiveren Mehr benötigen.

Die Alternative liegt in einer Kultur der Selbstrelativierung, die auf die Kirche im erstarkten, sich kümmernden und zugleich sich ständig selbst korrigierenden Staat wartet. Damit wird man zwar die unselige Frage der Systemrelevanz los, aber muss sich der spirituellen Zumutung einer schwindenden gesellschaftlichen und kulturellen Bedeutung unterwerfen. Bevor das zu einer ermutigenden Alternative einer Avantgarde werden kann, die mit dem Ausnahmezustand produktiv umzugehen vermag, steht eine schmerzliche Demut über die Selbstherrlichkeit ihrer früheren Normalzustände an. Hier hilft kein frommes Beschweigen.

Aber warum soll ausgerechnet das attraktiv sein? Allein in dieser Variante bleibt die Kirche einerseits im Kontakt mit dem Wohl einer Allgemeinheit, für dessen Förderung jeder und jede Einzelne mit dem Ausnahmezustand viel stärker zu leben genötigt ist. Und andererseits bleibt sie nur so in den Kontaktzonen ihres eigenen Evangeliums; denn es ist auf Ausnahmezustände gebaut und nicht auf Bestärkung sich selbst genügender Normalität aus. Diese Verortung ist für die Kirche komplexer als zuvor; sie führt nicht zu einer anderen Kirche, wohl wird sie dabei anders. Wer Angst vor dem Evangelium und den Menschen heute hat, muss dieses adverbial anders werden ja nicht wagen. Wer es wagt, wird Kirche anders aktivieren, als sich selbst zu genügen.

Von Hans-Joachim Sander

Der Autor

Hans-Joachim Sander war von 1997 bis 2002 als Privatdozent an der Universität von Würzburg und von 1998 bis 2002 sowohl in Eichstätt als auch in Salzburg tätig. Seit 2002 ist er Professor für Dogmatik in Salzburg.