Warum Wissenschaftler das Katholischsein der Deutschen untersuchen
Rund drei Millionen Euro zahlt die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) für ein Projekt, das die Entwicklung des Katholizismus zwischen der Zeit nach dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils und dem Mauerfall untersucht. Rund 30 Historiker und Kirchenhistoriker sind beteiligt. Drei Jahre lang sollen an neun Standorten zehn unterschiedliche Fragestellungen erforscht werden. Im Interview erläutert der Sprecher des Projekts, der Tübinger Kirchenhistoriker Andreas Holzem, worum es bei "Katholischsein in der Bundesrepublik Deutschland" geht.
Frage: Herr Professor Holzem, wie heißt die zentrale Fragestellung?
Holzem: Wir gehen bislang davon aus, dass sich der Katholizismus bis in die 1960er Jahre als geschlossene gesellschaftliche Gruppe formiert. Was danach passiert, ist bislang wissenschaftlich so gut wie nicht erforscht. Wahrgenommen wurde insgesamt ein Verlustprozess der vermeintlichen Säkularisierung. Aber viele Christinnen und Christen stoßen außerhalb des innerkirchlichen Milieus enorme Dynamiken sozialen, kulturellen und religiösen Wandels an. Durch ihr Engagement in ganz verschiedenen Feldern tragen sie zum Wandel der ganzen Gesellschaft bei. Wir schauen also nicht mehr isoliert auf den Katholizismus, sondern auf die gesamte Gesellschaft der 1960er bis 1980er Jahre.
Frage: Warum wurde das bislang nicht untersucht?
Holzem: Es ging vor allem um die Rolle der katholischen Kirche im Nationalsozialismus und um die Vorgeschichte und Aufarbeitung dieser kritischen Phase. Und die allgemeine Zeitgeschichtsforschung hat den Faktor Religion meistens völlig ausgeklammert. Das Projekt ist insofern sehr innovativ, es gibt bislang fast nichts dazu – zumindest nichts Systematisches. Das alles geschieht in enger Abstimmung mit der Kommission für Zeitgeschichte.
Frage: Zu den einzelnen Projekten gehört auch eine Analyse der Biografien des Bestseller-Theologen Hans Küng und Joseph Ratzinger, der 2005 Papst wurde. Warum?
Holzem: Die Rolle der Theologie wandelt sich, sie löst sich als Folge des Konzils vom Gängelband des kirchlichen Lehramtes. Küng und Ratzinger sind Leuchttürme dieser Entwicklung, auf die sich die Öffentlichkeit immer wieder bezieht. An ihnen und anderen Theologen mit großem öffentlichen Einfluss wollen wir untersuchen, wie sich das Kirchen- und Christentumsverständnis insgesamt entwickelt haben. Bei zwei Moraltheologen – Alfons Auer und Bernhard Stoeckle – wollen wir schauen, wie sich das Moralempfinden und das praktische ethische Verhalten verändert haben.
Frage: Dann geht es darum, was Katholiken zu lesen empfohlen wird...
Holzem: ... aber nicht um den Index der verbotenen Bücher, denn die römische Indexkongregation, die entscheiden wollte, was Katholiken lesen dürfen, war damals schon praktisch tot. Wir wollen wissen, wie die Rolle der Theologie in der öffentlichen Debatte kommuniziert wird. Wie kommt das veränderte und neue Wissen über Kirche und Christentum eigentlich zum Leser? In den 1960er Jahren begann die Phase, in der nicht nur Theologen theologische Bücher lasen. Theologie wird zum Lesestoff für das Bildungsbürgertum und ein öffentliches Thema – von Hans Küng über Johann Baptist Metz bis zu Leonardo Boff.
Frage: Neben Theologen gab es auf einmal auch Theologinnen.
Holzem: Ja, die Professionalisierung der Frauen begann ebenfalls in den 1960er Jahren. Was vorher von Ordensfrauen geleistet wurde, führt nun zu Anstellungen von Frauen in der Seelsorge und der Sozialarbeit. Mit den Katholischen Fachhochschulen entstehen sehr professionelle Ausbildungsinstanzen. Wir fragen: Welche Berufsprofile werden damals erfunden, welche Frauen interessieren sich dafür? Wie wirkt sich das alles aus?
Frage: Überraschen kann, dass Sie sich auch mit neuem geistlichen Liedgut befassen, mit Sacro-Pop.
Holzem: Es geht um Emotionen und Praktiken. Sacro-Pop ist ein Spiegel der enormen Politisierung – etwa in der Friedensbewegung, der Dritte-Welt-Bewegung, der Umweltbewegung, deren musikalisch-künstlerisch-kulturelle Verarbeitung. Beispiele sind Musicals wie "Ave Eva" über Weiblichkeit und gegen Frömmelei oder "Franziskus" über Armut und Frieden. Gespiegelt werden darin soziale, politische und innerkirchliche Prozesse – mit enormen emotionalen Auswirkungen. Das Teilprojekt mag auf den ersten Blick seltsam erscheinen, steht aber in enger Verbindung mit vielen Themen unseres Forschungsvorhabens.
Frage: Ein anderes Projekt widmet sich dem Verhältnis zu den Grünen.
Holzem: Lange gab es eine selbstverständliche Parteibindung überzeugter Katholiken. Das war erst die Zentrumspartei und nach dem Krieg die Union. Mit dieser Identifikation wollten sich aber immer mehr Menschen nicht mehr abfinden, sie machten, polemisch formuliert, die Adenauer-CDU für den "Mief" der frühen Bundesrepublik verantwortlich. Für diese Gruppe meist junger Menschen wurden die Grünen zu einem außerordentlich attraktiven Angebot. Petra Kellys Auseinandersetzung mit der Deutschen Bischofskonferenz ist ein gutes Beispiel für den Gedanken, dass christliche Politik auch außerhalb von CDU und CSU politisch beheimatet werden kann.
Frage: Sie wollen sich auch mit Kontroversen über die Weiterbildung des Schulsystems in Rheinland-Pfalz befassen und den Berliner Katholizismus zwischen Mauerbau und Mauerfall analysieren. Bei aller regionalen Streuung der zehn Vorhaben: Der Osten fehlt.
Holzem: Stimmt. Wir haben lange darüber diskutiert, ob wir die DDR berücksichtigen. Aber das Problem ist: Die DDR-Gesellschaft hat nach so extrem anderen Regeln funktioniert – wie kann man da wissenschaftlich verantwortlich vergleichen? Schweren Herzens und auch mit einem gewissen Risikobewusstsein, wie die DFG-Gutachter das einschätzen würden, haben wir aus konzeptionellen Gründen die DDR nicht zum Untersuchungsgegenstand gemacht. Wir hatten uns auch mit der Frage befasst, ob das Projekt nicht international aufgezogen werden muss.
Frage: Und die Antwort heißt:
Holzem: Natürlich kann man den deutschen Katholizismus etwa mit dem italienischen, dem französischen oder dem US-amerikanischen vergleichen. Aber wir sind gleichzeitig selbstbewusst und bescheiden. Wir fangen erst einmal mit der Bundesrepublik an. Und wir hoffen, dass wir das vielleicht in einer zweiten Phase leisten können. Viele unserer Fragestellungen sind aber ohne die Wahrnehmung internationaler Bezüge schon heute nicht verstehbar.