Die Schulen müssen wieder geöffnet werden!
Es ist erstaunlich, mit welcher Gelassenheit die Öffentlichkeit in Deutschland die Nachrichten über zunehmende Gewalt in Familien zur Kenntnis nimmt. Aus der Aufarbeitung von Missbrauch wissen wir: Zu dem Schrecken für die betroffenen Kinder und Jugendlichen gehört die wegschauende Öffentlichkeit. Man darf schon jetzt annehmen: Wir sehen nur die Spitze eines Eisbergs. Was werden wir den Kindern und Jugendlichen eines Tages sagen, wenn sie beginnen zu sprechen? Wo waren zum Beispiel die Stimmen, die sich für die Öffnung der Schutzräume namens Kita und Schule einsetzten? Wo sind da auch die kirchlichen Stimmen? Bildung ist doch ein Mega-Thema gerade auch der Kirchen, und Prävention ebenfalls!
Es ist aber auch, was den Bildungsbegriff betrifft, erbärmlich, um welche Themen sich die schulpolitischen Debatten in Coronazeiten vornehmlich drehen. Als ob zum Beispiel das (fälschlicherweise so genannte) "Homeschooling" je eine angemessene Antwort auf den Shut-Down von Unterricht in der Schule sein könnte! Die Propheten des "digital first, Bedenken second" pochen nun darauf, die angeblich verschlafene Digitalisierung nachzuholen. Das ist kurzsichtig.
Homeschooling: Erschöpfung bei Kindern und Eltern
In einer jüngst veröffentlichten Studie der DAK ist nachzulesen, welche physischen und psychischen Erschöpfungsphänomene bei Eltern und Kindern wegen Homeschooling zu registrieren sind. Wen wundert das? Unterricht ohne persönliche Nähe und ohne analog anwesende Lerngruppe ist auf Dauer irrsinnig anstrengend. Kitas und Schulen bieten nämlich weit mehr als Unterricht. Sie sind Schutzräume, Erholungsräume, Orte sozialer Nähe, gemeinsamen Erlebens, sportlicher und künstlerischer Tätigkeit sowie diskursiver Öffentlichkeit. All das ist unerlässlich für die Identitätsbildung und Subjektwerdung. Kinder und Jugendliche sehnen sich doch, wie gerade diese Tage und Wochen zeigen, nicht nur wegen Unterricht nach der Schule – und das ist auch gut für den Unterricht! Homeschooling wird das nie ersetzen können.
Am peinlichsten aber ist für mich als Lehrer, was aus dem Mund von GEW und anderen Lehrerverbänden zu hören ist. Ich fühle mich von ihnen nicht vertreten. Sie sind die lautesten Bremser, wenn es um die Öffnung der Schulen geht. Ihr Thema: Ansteckungsrisiko für die Lehrer. Mehr als ein Drittel der Lehrer fürchtet angeblich dieses Risiko. Testphasen seien zu unterlassen. Das würde Lehrer zu Versuchskaninchen machen. Und so weiter. Im Umkehrschluss bedeutet das: Schulen erst wieder öffnen, wenn das Infektionsrisiko für Lehrer definitiv ausgeschlossen ist, und: Schulen sofort wieder schließen, wenn eine neue Infektionswelle beginnt. Ich komme an die Grenzen meines Verständnisses mit der Allmacht dieser Ängste. Sind ein Drittel unserer Lehrerinnen und Lehrer Risiko-Personen? Ist jede Person Risiko-Person, die Angst hat, infiziert zu werden?
Auch wenn ich mir damit jetzt die Sympathie von einem Drittel der Lehrerschaft verscherze: Das Wohl der Kinder und Jugendlichen muss Lehrerinnen und Lehrern mindestens genauso am Herzen liegen wie das eigene Wohl. Das gehört zum Ethos dieses wunderschönen und zugleich existentiell ernsten Berufes. Die kategorische Vorordnung der Angst um sich selbst vor die Sorge um das Wohl der Kinder und Jugendlichen ist der Abschied der Lehrerverbände von der "Bildungsrepublik Deutschland". Da kann man noch so viel Investitionen in Digitalisierung und weitere Studien über die Infektiosität von Kindern fordern.